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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0592
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566 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

entspricht, jene Bedürfnisse aus Worten und Schematen, nicht Bedürfnisse aus
lebendigen Nöthen? Was ist die eigentliche Ursache jenes beschämenden und
im Auslande verspotteten Conflictes, in dem wir Deutschen mit dem schöpferi-
schen Kunstgenius unserer Zeit [Wagner] leben, mit dessen Namen doch eben
diese Zeit in dem Gedächtniss der Nachwelt gezeichnet und geehrt werden
wird? Was anders als angelernte leere Worte und historische graufadige Be-
griffs-Spinnennetze, durch die der Deutsche seine volle und tiefe Natur einfan-
gen lässt, in die eingesponnen er dann der eignen lebendigen Wirklichkeit das
Blut aussaugt. Denn dies eben will die ,Bildung4: in einem Begriffs-Gehäuse
sitzen, blutleer sitzen, und gegen alle giftig sein, die auf das Gehäuse blasen
und die immer wieder einmal einige Flocken davon wegblasen“ (KSA 14, 72-
73). Zum Schluss dieser Passage merkte Rohde an: „Das ganze Bild ist schwer-
lich, übertrieben und ganz unverständlich: wie so denn ,blutleer4, da sie ja aus
dem deutschen Blut aussaugt. Wozu die lessingsche Anaphora des ,sitzen4, die
man so leicht zu viel gebrauchen kann!“ (KSA 14, 73). Zu Rohdes Stilkritik vgl.
auch Kapitel II.5 des Überblickskommentars.
327, 30 Plato hielt es für nothwendig] Vgl. dazu Platons Politeia III 414b-415c.
328, 8 aeterna veritas] Diesen lateinischen Begriff, der die Bedeutung ,ewige
Wahrheit4 hat, verwendet N. bereits in der Geburt der Tragödie (KSA 1,118,18).
Hier kritisiert er den optimistischen Glauben an solche ,ewigen Wahrheiten4
als erkenntnistheoretische Naivität: „Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit
Kant’s und Schopenhauer’s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg
über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum
der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und Er-
gründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbedenklichen aeternae
veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Ge-
setze von allgemeinster Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese
eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur
einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten
und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von
diesem dadurch unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer’schen
Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern“ (KSA 1, 118, 12-26).
328, 19-26 In dieser Nothwahrheit muss aber unsere erste Generation
erzogen werden; sie leidet gewiss an ihr am schwersten, denn sie muss durch sie
sich selbst erziehen und zwar sich selbst gegen sich selbst, zu einer neuen Ge-
wohnheit und Natur, heraus aus einer alten und ersten Natur und Gewohnheit:
so dass sie mit sich altspanisch reden könnte Deflenda me Dios de my Gott behü-
te mich vor mir, nämlich vor der mir bereits anerzognen Natur.] Die von N. zitier-
te spanische Formulierung findet sich bei Montaigne: Oeuvres completes,
 
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