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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0594
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568 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

ben. Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Le-
bens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eignen Fortexistenz
hat“ (330, 32 - 331, 3). Diese Grundposition N.s schließt an zentrale Prämissen
der Schopenhauerschen Willensmetaphysik an, in der die Auffassung von der
essentiellen Abhängigkeit des Intellekts vom Willen dominiert. Auf dieser Basis
distanziert sich N. im vorliegenden Kontext von dem erkenntnistheoretischen
Grundprinzip „ich denke, also bin ich“ („cogito, ergo sum“) von Descartes.
Durch seine strukturanaloge lateinische These „vivo, ergo cogito“ („ich lebe,
also denke ich“) konterkariert N. die Überzeugung Descartes’ und entwirft ein
Gegenkonzept zur Dominanz rationalistischer Kategorien, durch die der
Mensch seines Erachtens zur „unlebendige [n] und doch unheimlich regsa-
me[n] Begriffs- und Wort-Fabrik“ (329, 6-7) depraviert und sich dem Status
bloßer „menschenähnliche[r] Aggregate“ annähert (332, 31-32). Für N. rückt
Descartes in den Fokus der Kritik, weil er den frühneuzeitlichen Rationalismus
begründete und in seinem dualistischen Konzept den Menschen als ,res cogi-
tans‘, mithin als denkendes ,Ding‘ charakterisiert.
In seinem lateinischen Werk Meditationes de prima philosophia (Meditatio-
nen über die Grundlagen der Philosophie) von 1641 gelangte Rene Descartes
(1596-1650), der beim skeptischen Hinterfragen des eigenen Erkenntnisvermö-
gens über die Problematik von Sinnestäuschungen und Traumphantasien
nachdachte und angesichts solcher Erfahrungen ein unerschütterliches Fun-
dament4 (,fundamentum inconcussum4) des Denkens suchte, im dritten Absatz
der Zweiten seiner Meditationen zu der methodischen Einsicht: „Da es ja immer
noch ich bin, der zweifelt, kann ich an diesem Ich, selbst wenn es träumt oder
phantasiert, selber nicht mehr zweifeln.“ Descartes stellt sich selbst die weiter-
führende Frage: „Doch woher weiß ich, ob das, was mit mir geschieht, Zweifeln
ist, ob ich mich täusche, dass ich ,ich4 bin und dass ich ,bin4?44 Und seine
Antwort lautet: „Wenn ich aber zweifle, so kann ich selbst dann, wenn ich
mich täusche, nicht daran zweifeln, dass ich zweifle und dass ich es bin, der
zweifelt, d. h. ich bin als Denkender in jedem Fall existent. Der erste unbezwei-
felbare Satz heißt also: ,Ich bin, ich existiere, das ist gewiß4.“ Die fundamentale
Bedeutung dieser Erkenntnis, die im lateinischen Originaltext „ego sum, ego
existo, certum est“ lautet, unterstreicht Descartes, indem er ihr Gewissheitssta-
tus zuschreibt - durch die „Feststellung, daß dieser Satz: ,Ich bin, ich existie-
re4, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist“
(Rene Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die
Grundlagen der Philosophie, 1977, 44-47). Wenig später charakterisiert Descar-
tes das zweifelnde Ich als „res cogitans“, also als „denkendes“ ,Ding4 (vgl.
ebd., 48-49).
Der berühmte Grundsatz von Rene Descartes, der meist als „Cogito ergo
sum“ zitiert wird, lautet vollständig so: „ego cogito, ergo sum“ („Ich denke,
 
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