Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0596
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
570 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

In der Götzen-Dämmerung schließlich erklärt N. prononciert: „das Ich [...]
ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel: das hat ganz und gar auf-
gehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen! ... Was folgt daraus? Es giebt
gar keine geistigen Ursachen! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum
Teufel!“ (KSA 6, 91, 7-11). Auch diese Einschätzung impliziert eine kritische
Perspektive auf den Cartesianismus sowie auf idealistische Subjekt-Konzepte.
Einen sprachkritischen Akzent setzt N. zuvor bereits in Jenseits von Gut und
Böse, indem er eine Fehldeutung der Verbindung von „ich“ und „denke“ von
einer „grammatischen Gewohnheit“ verursacht sieht (KSA 5, 31, 3-11). Dort
steht erneut der erkenntnistheoretische Grundsatz „ego cogito, ergo sum“ aus
Descartes’ Principia philosophiae im Fokus. Und in einem nachgelassenen No-
tat von 1885 mit einer ausführlicheren, ebenfalls sprachkritisch grundierten
Argumentation stellt N. den Bezug zu Descartes sogar explizit her: „Seien wir
vorsichtiger als Cartesius, welcher in dem Fallstrick der Worte hängen blieb“
(vgl. NL 1885, 40 [23], KSA 11, 639).
Zum Spektrum von N.s Urteilen über Descartes, die sich keineswegs auf
seine Kritik am cartesianischen Prinzip „cogito, ergo sum“ beschränken, gehö-
ren auch positive Äußerungen. So eröffnet N. seine durch Formen experimen-
tellen Denkens auf einen philosophischen Neubeginn zielende Schrift Mensch-
liches, Allzumenschliches unter dem Titel „Anstelle einer Vorrede“ sogar mit
einem markanten Zitat aus dem Discours de la methode: Hier exponiert Descar-
tes den Anspruch, seine „Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit“
zu folgen, als selbstgewählten Lebensinhalt (vgl. KSA 2, 11, 9-10) und betont
dabei die Aspekte Methodik und Erkenntnisfreude. Obwohl N. dem cartesiani-
schen Rationalismus mit Skepsis begegnet, würdigt er Descartes in methodolo-
gischer Hinsicht und rechnet ihn zusammen mit Aristoteles, Bacon und Comte
zu den „großen Methodologen“ (NL 1887, 9 [61], KSA 12, 368). Und im Anti-
christ erklärt N. dann, „Descartes“ habe „mit verehrungswürdiger Kühnheit“
erstmals „den Gedanken gewagt, das Thier als machina zu verstehn“, und da-
durch Konzepte der modernen Physiologie antizipiert (KSA 6, 180, 15-17). Un-
terschiedliche Aspekte von N.s Auseinandersetzung mit Descartes beleuchtet
Giuliano Campioni 2001, 49-64; Campioni betont, N. greife in seinen Aussagen
über Descartes „nur selten auf die Quellen zurück“, sondern orientiere sich
zumeist an Zeitschriftenartikeln und Essays von Autoren wie Hippolyte Taine
oder Ferdinand Brunetiere oder an Literaturgeschichten (ebd., 51, 59-64). Dies
gelte auch für N.s Auffassung, Descartes repräsentiere auf paradigmatische
Weise den „Aristokratism“ des 17. Jahrhunderts, und zwar durch „Herr-
schaft der Vernunft“ und Willensstärke (NL 1887, 9 [178], KSA 12, 440).
Auf das berühmte cartesianische Prinzip „cogito, ergo sum“ rekurriert N.
auch in der Fröhlichen Wissenschaft, wo er sich mit einem Bekenntnis zur Lei-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften