Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0040
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
20 Jenseits von Gut und Böse

Überschriften wieder entfernt, vgl. Kr I, 274). Diese neue Form korrespondiert,
so darf man die Bemerkungen in EH JGB 2 wohl auslegen, wenigstens im Rück-
blick zwei Jahre nach Erscheinen mit dem „Gedankengang des Buchs“, den der
Verfasser gemäß seinem Brief an Carl Spitteier vom 10. 02.1888 „mit leidlicher
Deutlichkeit“ in einer Besprechung, nämlich derjenigen von Paul Michaelis
aus der National-Zeitung vom 04.12.1886 dargestellt fand (KSB 8/KGB III/5,
Nr. 988, S. 247, Z. 48 f.). Michaelis hatte, allerdings in denunziatorischer Ab-
sicht, N.s Werk als Ausdruck eines radikalen Antiegalitarismus interpretiert:
„man sieht, die aristokratische Strömung unserer Zeit hat nun auch ihren phi-
losophischen Vertreter gefunden. Nietzsche spricht nur aus, was, wenn auch
unbewußt, heute die leitenden und treibenden Gedanken eines großen Theils
der »vornehmen4 Gesellschaft sind“ (Michaelis 1886, zitiert nach Reich 2013,
639). Zwar hielt N. Michaelis’ Einlassung für „abgeneigt und unehrerbietig“
(KSB 8/KGB III/5, Nr. 988, S. 247, Z. 47), und ihm missfiel, als Repräsentant von
Parteiinteressen, nämlich derjenigen des deutschen Geburtsadels angesehen
zu werden (vgl. seinen Brief an Franziska Nietzsche, 10.10.1887, KSB 8/KGB
III/5, Nr. 924, S. 164 f.). Aber es war N. ein Anliegen, gerade auch das „Raffine-
ment in Form, in Absicht, in der Kunst des Schweigens“ (EH JGB 2, KSA 6,
351, 16 f.) als adäquaten Ausdruck des Inhalts verstanden zu sehen, nämlich
als Ausdruck einer neuen „Vornehmheit“. Ein Mittel dieser Vornehmheit ist die
Aussparung - als Strategie, vieles nicht oder nur andeutungsweise und verrät-
selt zu sagen. Dem Anspruch nach findet damit eine Leser-Selektion statt: Nur
die Berufenen bringen die Geduld und das Gehör für N.s Erkenntnisse mit. „Im
letzteren Sinne ist das Buch eine Schule des gentilhomme, der Begriff
geistiger und radikaler genommen als er je genommen worden ist. Man
muss Muth im Leibe haben, ihn auch nur auszuhalten, man muss das Fürchten
nicht gelernt haben ...“ (KSA 6, 350, 23-351, 2). Auch andere frühe Interpreten
wie Widmann (1886) und Eduard von Hartmann (1891) haben JGB als Manifest
eines resoluten Antiegalitarismus verstanden, der, so Hartmann, den Demokra-
tismus mit einer neuen Tyrannis überwinden wolle. Wurde N. politisch plakati-
ver, weil er um jeden Preis gehört werden wollte, während er gleichzeitig die
Suggestion aufrecht erhielt, nur ein auserwählter Kreis sei überhaupt im Stan-
de, seine Texte zu verstehen?
Die meisten Gesamtinterpretationen geben spärliche Auskünfte zur Kon-
zeption und Struktur von JGB. In der Werkeinführung von Christa Acampora
und Keith Ansell-Pearson gibt es beispielsweise stattdessen nur eine ausführli-
che „Overview of Themes“ (Acampora/Ansell-Pearson 2011, 8-28). Dezidiert
äußerte sich Leo Strauss zur Struktur von JGB. Er sah das Vierte Hauptstück:
Sprüche und Zwischenspiele (KSA 5, 85-104) als Zäsur: Der erste Teil (Haupt-
stücke 1 bis 3) beschäftige sich mit Philosophie und Religion, der zweite Teil
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften