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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0046
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26 Jenseits von Gut und Böse

sein, weil er die Wirkung seiner bisherigen Schriften als so schmerzlich gering
erfahren musste, so dass sich die Kürzest-Essays zumindest gelegentlich zu
einer Art fortlaufender Argumentation verdichten? Dann wäre der Rezeptions-
Mangel nicht allein dem Verleger-Problem und der Unerhörtheit des Inhalts,
sondern auch der Form geschuldet. Einen ersten Versuch einer neuen, nicht-
aphoristischen Form macht bekanntlich schon Za. Aber die - parodistisch ge-
brochene - Lehrrede führte nicht zum gewünschten Effekt eines Publikumser-
folgs. Möglicherweise als Reaktion darauf wird in JGB der Aphorismus gele-
gentlich erweitert zu gedanklich konjugierten Kurztextgruppen. Die Kurztexte
von JGB setzen gerade keine festen Horizonte und sind auch deshalb keine
Aphorismen im Wortsinn, - wenn man Aphorismus etymologisch von
äcpopi^Eiv, „abgrenzen, bestimmen“ ableitet -, sondern sie reißen a-horistisch
(öpot; = Grenze, davor ein verneinendes Alpha privativum) neue Horizonte auf
(vgl. Müller 2014, 172-175). Es ist also nicht unproblematisch, im Blick auf JGB
überhaupt von „Aphorismen“ zu sprechen; daher wird im Folgenden der neu-
tralere Ausdruck „Abschnitte“ vorgezogen.
Auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive stellt sich JGB damit sowohl
als temptatorisches wie auch als promissorisches Buch dar: Jeder Leser pickt
sich das heraus, was ihm wichtig erscheint; jeder gewichtet individuell nach
seinen Vor-Urteilen und liest damit ein anderes Buch. Das Buch selektiert so
selbst seine Leser, die wiederum aus dem Buch selektieren. Allerdings tut es
das auf durchaus unzimperliche Weise, ist der Tonfall von JGB doch selten
einladend oder werbend, sondern oft genug aggressiv. Dabei richtet sich die
philosophische Aggression gegen so ziemlich alles, was in der Gesellschaft des
Kaiserreichs (und im Übrigen noch heute) für wertvoll und heilig erachtet wird:
Provokation und Polemik sind die Mittel der Wahl. Gerade das Repetitive der
Invektiven gegen den Egalitarismus, die Demokratie oder die sklavenmorali-
sche Umwertung kann die Leser zermürben. Verunsichernd wirkt JGB nicht
durch freundliche Einladung und verbindliche Zusagen intellektueller oder
spiritueller Ersatzangebote für den Fall, dass man seine bisherigen Überzeu-
gungen preisgibt. JGB zielt nicht auf eine reichhaltige Palette von Wahlmög-
lichkeiten, zu denen sich die Leser dann ungezwungen und frei ins Verhältnis
setzen könnten. Vielmehr macht das Werk eine möglichst breite Frontlinie auf
und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, die Leser an der einen oder anderen
empfindlichen Stelle zu treffen. Die Erfahrung des Nicht-Gehörtwerdens stei-
gerte die Brachialität von N.s Versuchen, durch sein Denken und Schreiben
Einfluss zu nehmen.
JGB hat keine zwingende systematische Struktur, sondern fängt immer
wieder neu an. Entsprechend können trotz der gliedernden und orientierenden
Funktion der Hauptstück-Überschriften unterschiedliche Leser die Struktur
 
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