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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0064
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W Jenseits von Gut und Böse

Dass in der Präposition „jenseits“ in der Großschreibung zu Beginn des
Buchtitels das Substantiv „Jenseits“ anklingt, macht auch da eine ironische
Überbietung wahrscheinlich: Gegen die christliche Vorstellung des Jenseits,
die zu einer Verlagerung des Lebensschwergewichtes in eine Welt hinter dieser
Welt verleitet, polemisiert N. namentlich in AC und EH (vgl. z. B. NK KSA 6,
173, 29-32; NK KSA 6, 246, 30-247, 18 u. NK KSA 6, 295, 33-296, 6, zur Interpre-
tation siehe Arne Gron in NLex 167). Mit der substantivischen Bedeutung des
Jenseits, das er eben in ganz anderem Sinn als die Christen versteht, spielt N.
beispielsweise in NL 1886, KSA 12, 3[19], 175, 11 f. (entspricht KGW IX 4, W I 7,
26, 2), wenn er ausruft: „Wir Philosophen des Jenseits — des Jenseits von Gut
und Böse, mit Verlaub!“
„Jenseits von Gut und Böse“ dient N. in den späteren Selbstevaluationen
als Standardformel, um bei aller scheinbaren Disparität die Einheit seiner ge-
samten Buchproduktion zu fassen: So wird GT zum Kristallisationspunkt eines
„Pessimismus »jenseits von Gut und Böse“4 (GT Versuch einer Selbstkritik 5,
KSA 1,17, 28 f.), während sich im Rückblick auf MA das Autor-Ich als „Immora-
list und Vogelsteller“ zu erkennen gibt, das „unmoralisch, aussermoralisch,
»jenseits von Gut und Böse4“ rede (MA Vorrede 1, KSA 2, 15, 2f.). Den Untertitel
von M zitierend, gibt FW 380 zu bedenken: „»Gedanken über moralische Vor-
urtheile4, falls sie nicht Vorurtheile über Vorurtheile sein sollen, setzen eine
Stellung ausserhalb der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse
zu dem man steigen, klettern, fliegen muss“ (KSA 3, 633, 1-4). Die in GM I
etablierte Unterscheidung zwischen der angeblich ursprünglich herrenmorali-
schen Wertungsweise gut/schlecht und der sklavenmoralischen Wertungswei-
se gut/böse projiziert N. auch in den Werktitel des vorangegangenen Werkes
zurück, obwohl nur in einem einzigen Abschnitt von JGB diese Unterscheidung
thematisiert wurde (nämlich in JGB 260, KSA 5, 208-212): „Grund genug für
mich, selbst zu Ende zu kommen, vorausgesetzt, dass es längst zur Genüge
klar geworden ist, was ich will, was ich gerade mit jener gefährlichen Losung
will, welche meinem letzten Buche auf den Leib geschrieben ist: »Jenseits
von Gut und Böse4 ... Dies heisst zum Mindesten nicht Jenseits von Gut
und Schlecht.4“ (GM 117, KSA 5, 288, 18-24).
Im Umgang mit der Formel „Jenseits von Gut und Böse“ bleiben bei N.
selbstkritische Zwischentöne selten und sind gut verborgen im Nachlass, etwa
dort, wo N. die fortdauernde Kraft der Moral trotz Moralkritik sich selbst zu
bedenken gibt: „Ich hatte nur gewähnt, jenseits von gut und böse zu sein.
Die Freigeisterei selber war moralische Handlung / 1) als Redlichkeit/
2) als Tapferkeit / 3) als Gerechtigkeit / 4) als Liebe“ (NL 1882/83, KSA 10, 6[1],
232, 28-233, 2). Der Form nach bleiben die moralkritischen Urteile also selbst
Bestandteil der moralischen Praxis, ebenso wie der moralkritische Impetus
 
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