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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0070
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50 Jenseits von Gut und Böse

nähme wird man anführen können, dass Lebensverachtung und Niedergang,
kurzum: decadence für die lange Erfolgsgeschichte dogmatischen Philosophie-
rens verantwortlich sein dürften.
Vor JGB spielt der Begriff des Philosophen als „Dogmatiker“ bei N. eine
nur untergeordnete Rolle. In den publizierten Werken fällt gelegentlich das
Wort „dogmatisch“ in einem weiten Sinn zur Kennzeichnung religiöser Bor-
niertheit; nur MA II WS 16 benutzt „Dogmatiker“ in einem zu JGB Vorrede ana-
logen Sinn und lässt das „Wir“ dazu in markanten Gegensatz treten: „Ebenso-
wenig, wie diese Fragen der Religiösen, gehen uns die Fragen der philosophi-
schen Dogmatiker an, mögen sie nun Idealisten oder Materialisten oder
Realisten sein. Sie allesammt sind darauf aus, uns zu einer Entscheidung auf
Gebieten zu drängen, wo weder Glauben noch Wissen noth thut“ (KSA 2, 551,
4-9). In die Vorbereitungsphase von JGB Vorrede gehört bereits NL 1885, KSA
11, 42[6], 696, 4f.: „1 Dogmatiker. Plato und der ,reine Geist4, die prachtvolle
Spannung durch die Dogmatiker.“ In JGB 43, KSA 5, 60, 2-5 wird immerhin
explizit gemacht, dass die „kommenden Philosophen“ ,,[s]icherlich [...] keine
Dogmatiker sein“ werden. JGB 43 ist im ursprünglichen Diktat von Louise Rö-
der-Wiederhold in Dns Mp XVI, BL 42r noch mit Teilen der späteren Vorrede
von JGB verquickt (siehe die Edition bei Röllin 2012, 216 f.).
Die einzigen inhaltlich eingehenderen Informationen über die „Dogmati-
ker“ sind JGB Vorrede zu entnehmen - aber auch da bleibt das Profil dogmati-
schen Philosophierens recht unscharf. Gewiss steht die Abgrenzung Kants von
der dogmatischen Philosophie auch im Hintergrund von N.s Wortverwendung.
Diese Nähe führt allerdings leicht dazu, die angeblichen Parallelen zu Kant
und den Kantianern herauszustreichen, anstatt N.s Text ernstzunehmen. So
wird beispielsweise suggeriert, die Vorrede von JGB sei der Vorrede zur ersten
Auflage der Kritik der reinen Vernunft bis in die Metaphern hinein mehr oder
weniger direkt nachgebildet (Kant: Kritik der reinen Vernunft A VIII-X, vgl.
Clark/Dudrick 2012, 14 f.), während es nicht einmal einen belastbaren Beleg
dafür gibt, dass N. je Kants erste Kritik gelesen hat (die diesbezüglichen Stellen
in Werken und Nachlass sind wie so oft aus sekundären Quellen geschöpft,
vgl. die sarkastische Bemerkung von Hofmiller o.J., 35: „Nietzsche lebt nicht
nur geistig von der Hand in den Mund, er lebt aus zweiter Hand in den
Mund.“). Die beiden Vorreden zur Kritik der reinen Vernunft mögen zwar in
philosophicis kulturelle Mustertexte sein, aber abgesehen von allgemeinen An-
leihen sind die Parallelen zu JGB Vorrede dürftig. Gegen die Behauptung,
„Nietzsche is using ,dogmatism‘ as Kant did“ (Clark/Dudrick 2012, 16), spricht
erstens, dass JGB Vorrede die für Kant in diesem Zusammenhang zentrale Fra-
ge der Erkenntnis kaum anspricht (es sei denn, man identifiziere diese Frage
mit derjenigen nach der Wahrheit), zweitens, dass N. hier die Frage nach der
 
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