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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0071
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 11 51

Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, oder spezifischer: von syntheti-
schen Urteilen a priori nicht interessiert; drittens, dass Kants Korrelat zur dog-
matischen Philosophie, nämlich die kritische, in diesem Text von N. ebensowe-
nig explizit gemacht wird; schließlich viertens, dass N. kein Interesse hat, Me-
taphysik kritisch zu restituieren (gegen die Engführung von Kant und N. bei
Clark/Dudrick 2012 siehe auch Louden 2014).
Zu Recht verweisen Clark/Dudrick 2012, 18-22 auf Afrikan Spirs von N. mit
zahlreichen Lesespuren hinterlassenes Werk Denken und Wirklichkeit, wo zu
Beginn - freilich ohne Markierungen N.s - Kants Unterscheidung exponiert
wird. Jedoch beginnt Spir ausgerechnet mit jenen vier Aspekten, die in der
Vorrede von JGB entweder nicht thematisch werden oder keine Rolle spielen:
„Seit Kant ist die Unterscheidung der dogmatischen und der kritischen Richtung
in der Philosophie Allen geläufig geworden. Der Dogmatiker will über die Ge-
genstände der Erkenntniss entscheiden, ohne vorher das Erkenntnissvermögen
selbst, dessen Natur, dessen Gesetze und Grenzen untersucht und festgestellt
zu haben. Dagegen macht sich der kritische Philosoph gerade diese letztere
Untersuchung zur ersten und hauptsächlichsten Aufgabe. [...] Einen Dogmatis-
mus gibt es also nur in der Metaphysik.“ (Spir 1877, 1, 1) Nachweislich hat N.
Spir 1885 noch einmal gelesen, daneben aber auch diverse andere Werke, in
denen ebenfalls von dogmatischer Philosophie die Rede ist, wie etwa Heinrich
Romundts Grundlegung zur Reform der Philosophie (Romundt 1885, 51; 101 f.;
233 u. 237), Gustav Teichmüllers Die wirkliche und die scheinbare Welt (Teich-
müller 1882, XVIII) oder Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une morale sans Obliga-
tion ni sanction, wo N. die Bemerkung zur Kenntnis nahm, man könne, anstatt
den Zweifel der Immoralität anzuklagen, vielmehr auch die Immoralität des
dogmatischen Fürwahrhaltens behaupten („on pourrait soutenir aussi l’immo-
ralite de la foi dogmatique“. Guyau 1885,127). N. hatte diese Passage unterstri-
chen, am Rand doppelt markiert und auch noch ein affirmierendes „moi“
(„ich“) hinzugefügt (Guyau 1909, 285). Für Guyau ist Kants Pflichtethik der
Inbegriff des philosophischen Dogmatismus.
Nicht nur wegen des eklatanten Mangels an inhaltlicher Übereinstimmung
von Spir 1877 und der Vorrede zu JGB sowie der Fülle von anderen einschlägigen
Lektüren N.s ist die Behauptung abwegig, „it would be very surprising if Nietz-
sche began the book by using ,dogmatist‘ in a way that differed greatly from
Spir’s usage - at least not without some indication“ (Clark/Dudrick 2012,19). Sie
ist überdies abwegig, weil Spir in JGB nicht nur nie erwähnt wird, und es also
keinen Grund gegeben hätte, Differenzen zu einem offenkundig Abwesenden zu
markieren, sondern vor allem auch, weil sie N.s Rezeptionsverhalten grundle-
gend verkennt: In den meisten Fällen, wo N. sich ausdrücklich oder stillschwei-
gend auf Lektüren bezieht, modizifiert und variiert er das Vorgefundene, um es
 
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