Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0095
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 1, KSA 5, S. 13 75

42 behaupten, „Vorurtheil“ „refers not to something problematic that philoso-
phers must overcome but to the values (or prejudgments) that are essential
to all philosophy“, dann verkennen sie nicht nur, dass „Vorurteil“ nach dem
Sprachgebrauch schon des 18. und 19. Jahrhunderts nicht nur ein Urteil meint,
das jeder eingehenden Untersuchung eines zur Beurteilung anstehenden Ge-
genstandes zugrunde liegt, wie Heit 2014d, 37 zurecht anmahnt. Vielmehr
übergehen sie auch, dass seit der Aufklärung die Vorurteilskritik zu den Grund-
anliegen der Philosophie gehört. N. nimmt nun diesen Faden auf, wendet das
Argument aber gegen die Philosophie, während er gleichzeitig auf der Perspek-
tiven- und Wertungsgebundenheit aller Philosophie (und überhaupt jeglicher
Lebensform) beharrt (zur Geschichte der neuzeitlichen Vorurteilskritik seit
Francis Bacon und Rene Descartes siehe den Übersichtskommentar zur Mor-
genröthe in NK 3/1, deren Untertitel „Gedanken über die moralischen Vorur-
theile“ lautet). „Vorurtheil“ ist bei N. also durchaus ein kritischer Kampfbegriff,
ohne dass deswegen jedes Vorurteil per se falsch sein müsste.
1.
KSA 14, 346 f. teilt zu JGB 1 zwei frühere Versionen mit: „Das Verlangen nach
Wahrheit, das mich nicht unbedenkliche Wege geführt hat, legte mir ab und
zu dieselbe fragwürdigste aller Fragen in den Mund: am längsten machte ich
vor der Frage nach den verborgenen Ursachen dieses Verlangens halt, zu-
letzt aber blieb ich bei der Frage nach dem Werthe jenes Verlangens stehen.
Das Problem der Wahrhaftigkeit erschien vor mich [sic]: sollte man
glauben, daß es mir scheinen will, als sei es zum ersten Male gestellt, gesehen,
gewagt?“ (W I 7). In W I 5 heißt es: „Alea jacta est. - Der ,Wille zur
Wahrheit4, der mich noch zu manchem Wagnisse verführen wird, - welche
seltsamen Fragen hat er mir schon vorgelegt, welche schlimmen fragwürdigen
Fragen! Was Wunder, daß ich endlich mich mißtrauisch umdrehe und auch
meinerseits vor dieser Sphynx fragen lerne? Wer ist das eigentlich, der mich
hier fragt?! Welche schlimmen wunderlichen fragwürdigen Fragen! Das ist eine
lange Geschichte: was Wunder, daß ich endlich dabei mißtrauisch werde, die
Geduld verliere und mich ungeduldig umdrehe! Daß ich vor dieser Sphynx
auch meinerseits fragen lerne? Wer ist das eigentlich, der mir hier Fragen
stellt? Was in mir ,will‘ eigentlich ,zur Wahrheit4?“
Die Vorrede setzt das Wachsein als Aufgabe des sprechenden „Wir“ zum
Schlaf in Opposition, in den Europa gefallen sei, nachdem der Albdruck des
Platonismus von ihm gefallen war. Sie verschleiert aber zugleich, was denn an
die Stelle dieses Platonismus getreten sein soll, gegen den zu kämpfen in der
Geschichte des Abendlandes jene „Spannung“ erzeugt hat, die als Treibmittel
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften