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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0098
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78 Jenseits von Gut und Böse

dieses Fragen aber gegen den Fragenden um, nach dessen Identität „in uns“
es sich erkundigt.
N. bezog sich gelegentlich auf die mythologische Figur der Sphinx (vgl.
z. B. NK KSA 1, 40, 16-20) - stets hatte er dabei, wie auch in KSA 5, 15, 21
deutlich wird, ihre Auseinandersetzung mit Ödipus vor Augen (vgl. auch Blon-
del 1975): Das Ungeheuer - ein geflügeltes Mischwesen mit Löwenleib und
Menschenkopf (N. sprach von seinem „Jungfrauenleib“ in NL 1870/71, KSA 7,
7[27], 144, 4) - setzte der griechischen Stadt Theben zu, indem es die Vorbeige-
henden mit seiner Rätselfrage behelligte, welches Wesen morgens vierfüßig,
mittags zweifüßig, abends aber dreifüßig sei. Wer um die Antwort verlegen
war, wurde unweigerlich gefressen. Erst Ödipus gab die richtige Antwort: der
Mensch, worauf sich die Sphinx in einen Abgrund stürzte, Ödipus unwissent-
lich seine Mutter lokaste heiratete und König von Theben wurde (Apollodor:
Bibliothek III5, 8). Im Frühwerk neigte N. vor dem Hintergrund seiner eigenwil-
ligen Deutung von Sophokles’ König Ödipus dazu, die Sphinx sehr allgemein
als „Räthsel der Natur“ (GT 9, KSA 1, 67, 7) zu interpretieren. Außer in GT
kommt die Sphinx in N.s Werken sonst explizit nur noch in JGB vor. Gleichwohl
bricht sich schon im Nachlass der frühen achtziger Jahre ein stärker identifika-
torisches Verhältnis sowohl zur Sphinx als auch zu Ödipus Bahn: „Hier sitzest
du, unerbittlich wie meine Neubegier, die mich zu dir zwang: wohlan, Sphinx,
ich bin ein Fragender, gleich dir: dieser Abgrund ist uns gemeinsam — es wäre
möglich, daß wir mit Einem Munde redeten?“ (NL 1881, KSA 9, 13[22], 622)
Ähnlich klingt es noch am 07. 05.1885 in einem Brief an Overbeck, in dem N.
sich beruhigt zeigte, dass der Freund ihn als Verfasser von Za nicht für „über-
geschnappt“ halte: „Meine Gefahr ist in der That sehr groß, aber nicht diese
Art Gefahr: wohl aber weiß ich mitunter nicht mehr, ob ich die Sphinx bin, die
fragt, oder jener berühmte Oedipus, der gefragt wird — so daß ich für den
Abgrund zwei Chancen habe.“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 599, S. 44, Z. 4-8; vgl.
auch NL 1882, KSA 9, 17[18], 668) NL 1885, KSA 11, 34[230], 498, 7-9 (KGW IX
1, N VII 1, 25, 8-6) macht die Sphinx sogar zur Zeugin dessen, was man N.s
Perspektivismus zu nennen pflegt: „Auch die Sphinx hat Augen: und folglich
giebt es vielerlei »Wahrheiten4, und folglich giebt es keine Wahrheit.“ Sein ers-
tes Aphorismen-Werk MA assoziiert N. rückblickend mit dem Figurenpaar
Sphinx und Ödipus (NL 1885, KSA 11, 40[68], 667, 30f., entspricht KGW IX 4,
W I 7, 16, 12-14), während er in JGB 28 Platon eine „Sphinx-Natur“ attestiert
(KSA 5, 47, 22 - vgl. Ghedini 2011) und in JGB 208 davon spricht, dass „auch
die Sphinx [...] eine Circe“ sei (KSA 5,138, 8 f.). Diese Personifikation spielt auf
die Verführungskraft der Sphinx an, der Rätselstellerin - eine Verführungs-
kraft, der nach JGB 1 die Philosophie und die Wissenschaft bislang erlegen sein
sollen, weil sie sich die Frage der Sphinx nach der Wahrheit ohne kritische
 
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