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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0100
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80 Jenseits von Gut und Böse

Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen ...“ (KSA 5, 401,
23-25).
Nicht ganz ohne Belang mag sein, dass der von N. verehrte und ihn för-
dernde Karl Hillebrand ausgerechnet dem von N. noch inniger verehrten Napo-
leon in kritischer Absicht attestierte: „Eine Lüge kostete ihn gar Nichts, und es
ist kaum zu verwundern, daß er die Macht und den Werth der Wahrheit nie
begriff.“ (Hillebrand 1881, 286) Hillebrand setzte wie die meisten Zeitgenossen,
die die Wendung „Werth der Wahrheit“ benutzten, selbstverständlich voraus,
dass dieser Wert absolut gegeben sei. Gelegentlich wird dieser Wert dann doch
philosophisch begründet, und zwar mit dem Argument, dass ohne die Wert-
schätzung der Wahrheit menschliche Kommunikation und menschliches Zu-
sammenleben völlig unmöglich wäre. So pries Hermann Lotze in seinem Mikro-
kosmus die „innerliche“ Tugend der „Wahrhaftigkeit“ und fuhr fort: „Der Werth
der Wahrheit und die völlige Unmöglichkeit, mit lauter Lügen noch einen
menschlichen Verkehr zu unterhalten, drängt sich auch dem rohesten Naturzu-
stand so sehr auf, daß überall die Lüge wenigstens in gewissen Verhältnissen,
in denen man auf Wahrheit rechnet, für den Keim alles Bösen gegolten hat.
Allein mit der Anerkennung des Werthes der Wahrheit ist der Trieb sie zu spre-
chen gar nicht unmittelbar verbunden, und sich selbst erscheint der Lügner
doch erst in der gebildeten Gesellschaft verdammlich, während das Leben der
Naturvölker in vieler Hinsicht auf Hinterlist und auf technische Ausbildung der
Heuchelei gestellt ist.“ (Lotze 1869, 2, 403) Aus Leopold Schmidts Ethik der
alten Griechen erfuhr N., wie sehr Platon am „Werthe der Wahrheit“ gelegen
gewesen sei (Schmidt 1882, 2, 407), während Gustav Teichmüllers Literarische
Fehden im vierten Jahrhundert eine Polemik gegen N.s Pfortenser Lehrer Karl
Steinhart unter Rekurs auf den „Werth der Wahrheit“ lancierten: „Steinhart
glaubte in dem Streite der Philosophen etwas moralisch Verwerfliches zu fin-
den, wovon er Platon gern reinigen möchte. Da er nicht selbst Philosoph war,
so scheint er geglaubt zu haben, dass die Philosophen sich ebensowenig zu
bekämpfen brauchten, wie etwa ein Maler einen Bildhauer oder einen Musiker
und umgekehrt. Darin liegt nun freilich eine starke Naivetät; denn wer so etwas
wie Steinhart sagt und glaubt, der hat keine Ahnung von der Aufgabe der Wis-
senschaft und dem Werthe der Wahrheit. Die Wissenschaft kennt nur Eine
Wahrheit und die Wahrheit ist eifersüchtig, wie Jehova“ (Teichmüller 1884, 2,
78. Entgegen der Angabe in KGB III 7/1, 433 bezieht sich N.s Dank an Overbeck
für die Übersendung von „Teichmüller II“ im Brief vom 27.10.1883, KSB 6/
KGB III/l, Nr. 470, S. 449, Z. 3 wohl auf dieses Werk, dessen zweiter Band
vermutlich schon im Herbst 1883 erhältlich war. Im Unterschied zu dem in
KGB III 7/1, 433 genannten Buch befanden sich die Literarischen Fehden tat-
sächlich in Overbecks Bibliothek, vgl. auch Nietzsche/Overbeck 2000, 479). Die
 
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