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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0113
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Stellenkommentar JGB 4, KSA 5, S. 18 93

dingten“. Dass es das „Unbedingte“ nicht gebe, gehört zwar zu den pieces de
resistance des in N.s späten Texten immer wieder ausgeübten kritisch-genealo-
gischen Geschäfts („alles Unbedingte gehört in die Pathologie“ - JGB 154, KSA
5,100, 3 f.). Dennoch scheint der Glaube daran lebensdienlich zu sein (in Hans
Vaihingers Philosophie des Als Ob von 1911 sollte diese Paradoxie dann Karriere
machen, vgl. zur gemeinsamen Abhängigkeit des Fiktionalismus bei N. und
Vaihinger von Friedrich Albert Lange z. B. Ceynowa 1993, 221, Anm. 3, und zu
N. und Vaihinger allgemein Gentili 2013).
18, 5 Falschheit eines Urtheils] In der Reinschrift stand ursprünglich: „Falsch-
heit eines Begriffs“ (KSA 14, 348, ähnlich in den Vorstufen NL 1885, KSA 11,
35[37], 526 f. = KGW IX 4, W I 3, 96 und Dns Mp XVI, Bl. 35r). Die Ersetzung
von „Begriff“ durch „Urtheil“ hier und in 18, 9 ermöglicht es dann, als Fallbei-
spiel Kants Urteilslehre heranzuziehen (vgl. NK 18, 10).
18, 7 f. wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar
Art-züchtend ist] Anstatt nach Maßgabe der Logik nur nach Wahrheit oder
Falschheit von Urteilen zu fragen und mit der philosophischen Tradition die
falschen Urteile ihrem Schicksal im Strudel des Vergessens zu überlassen,
passt der hier zu kommentierende Text die Frage nach der Falschheit in den
Problemhorizont der Evolutionstheorie ein, indem er ihre Lebensförderlichkeit
behauptet und mit dem Stichwort „Art-erhaltend“ einen unmittelbaren Bezug
zum Darwinismus herstellt. Dass die Arterhaltung höchster Zweck sein soll, ist
eine Vorstellung, gegen die N.s Texte zu opponieren pflegen (vgl. z. B. FW 1,
KSA 3, 369-372). In NL 1883, KSA 10, 7[238], 315, 12-18 notierte er: „Grund-
irrthum bisher: ,alle Handlungen des Menschen sind zweck bewußt/ / ,der
Zweck des Menschen ist die Arterhaltung und nur insofern auch die
Erhaltung seiner Person4 —jetzige Theorie. / So steht es auch bei sehr indivi-
duellen Menschen, wir sorgen für unsere zukünftigen Bedürfnisse!“
(Vgl. NL 1883, KSA 10, 8[18], 340, 21: „die Arterhaltung als Moralprincip
umgemünzt!“) Eine Quelle für diese Sicht ist Georg Heinrich Schneiders von
N. 1882 erworbenes Buch Der menschliche Wille: „Es kann ja gar kein allge-
meineres Gesetz des Handelns geben als das der Arterhaltung. / Bei den Thie-
ren und beim Menschen giebt es keinen allgemeineren Willen, als den Willen
zur Arterhaltung; und es giebt nichts, in dem der Einzelwille so sehr mit dem
Gesammtwillen übereinstimmt und übereinstimmen kann, als in dem Streben,
nach Arterhaltung. Alle Bewegungen eines einzelnen Urthieres, wie eines ein-
zelnen gesunden Menschen bezwecken nur die Arterhaltung [...]. Der finale
Zweck alles menschlichen und thierischen Handelns aber ist
die Arterhaltung; und das Streben nach vollkommener Arter-
haltung ist zugleich die Pflicht jedes einzelnen Menschen.“
(Schneider 1882, 387).
 
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