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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0125
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Stellenkommentar JGB 6, KSA 5, S. 19 105

giebt auch bei den großen Philosophen diese Unschuld: sie sind sich nicht
bewußt, daß sie von sich reden — sie meinen, es handle sich ,um die
Wahrheit4 — aber es handelt sich im Grunde um sie. Oder vielmehr: der in
ihnen gewaltigste Trieb bringt sich an’s Licht, mit der größten Schamlosigkeit
und Unschuld eines Grundtriebes — er will Herr sein und womöglich der Zweck
aller Dinge, alles Geschehens! Der Philosoph ist nur eine Art Gelegenheit und
Ermöglichung dafür, daß der Trieb einmal zum Reden kommt.“ (NL
1883, KSA 10, 7[62], 262, 7-21, vgl. dazu auch Müller-Lauter 1999b, 101.)
JGB 6 und die unmittelbar damit zusammenhängenden Notate unterschla-
gen die Spezifität des systematischen Philosophierens, das 1882 im Vorder-
grund gestanden hatte, und sprechen stattdessen von „grossen Philosophen“
überhaupt. Sie verlagern den Akzent auf das Moralische, d. h. auf die zugrunde
liegende Lebensauffassung, und wie schon im Nachlass 1883 auf das unbe-
wusste Triebleben, das dem Philosophieren seine Bestimmung und Richtung
gebe - und zwar je nach der Dominanz bestimmter Triebe. Im Unterschied zum
Gelehrten bringe der Philosoph sein Persönlichstes im Denken zum Ausdruck.
Ob er dabei systematisch philosophiert oder nicht, tut nichts mehr zur Sache;
zur Leitfrage wird jetzt, welcher Trieb denn in einem Philosophen-Individuum
jeweils herrschend ist. Aufschlussreich erscheint, dass die alte, zentral heraus-
gehobene und gegenüber dem bloßen „Gelehrten“ übergeordnete Stellung des
Philosophen erhalten bleibt und damit ein spätestens seit Platons Topos von
den Philosophenkönigen bewährtes Rollen- und Selbstbild der Philosophen
weiter tradiert wird - mit der ironischen Pointe, dass es eben nicht die bewuss-
ten Denkanstrengungen, sondern subkutane Bewegungen des Denkens sind,
die Werk und Persönlichkeit des Philosophen prägen.
JGB 6 ist aufschlussreich, um die Veränderung der Auffassung von Philoso-
phiegeschichte in N.s Werk nachzuvollziehen. Im Anschluss an Schopenhauer
schreibt N. noch 1874: „was geht unsre Jünglinge die Geschichte der Philoso-
phie an? Sollen sie durch das Wirrsal der Meinungen entmuthigt werden, Mei-
nungen zu haben? Sollen sie angelehrt werden, in den Jubel einzustimmen,
wie wir’s doch so herrlich weit gebracht? Sollen sie etwa gar die Philosophie
hassen oder verachten lernen? [...] Die einzige Kritik einer Philosophie, die
möglich ist und die auch etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach
ihr leben könne, ist nie auf Universitäten gelehrt worden: sondern immer die
Kritik der Worte über Worte.“ (UB III SE 8, KSA 1, 417, 17-30) Damit ist das
Kriterium oder vielmehr der Referenzbegriff benannt, der sich durch die bei
N. zu findenden Reflexionen zur Philosophiegeschichte hindurchzieht: Leben.
Während jedoch 1874 auf antikisierend-traditionelle Art die Lebensbestim-
mungsrelevanz von Philosophie angemahnt und alle Philosophie daran gemes-
sen werden sollte, inwiefern sie fürs Leben taugt, wird zwölf Jahre später die
 
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