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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0126
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106 Jenseits von Gut und Böse

entgegengesetzte Perspektive eingenommen: Das Leben - verdichtet im freilich
auch im Fortgang von JGB nebulös bleibenden Begriff des Triebs - prägt sich
in bestimmten Philosophien aus, je nachdem, was der jeweilige Philosoph für
eine Art von Leben lebt. Es geht hier nicht darum, dass Philosophie das Leben
bestimmen soll, sondern umgekehrt darum, dass die Philosophie vom Leben
bestimmt wird. Münzte man diese Prämisse in ein philosophiehistoriographi-
sches Konzept um, wäre der Philosophiehistoriker damit beschäftigt, hinter je-
der Philosophie den jeweils dominierenden Trieb - denn es scheint unter-
schiedliche Möglichkeiten zu geben - zu identifizieren, um so zu zeigen, wel-
che Triebe welche Philosophien hervorbrächten. Wie ein solches Programm
dissidenter Philosophiegeschichtsschreibung in eine konkrete Forschungspra-
xis überführt werden kann, bleibt indes offen, ebenso ob eine solche For-
schungspraxis überhaupt realisierbar ist. Denn wie macht man „Triebe“ ding-
fest, wenn man immer nur ihre angeblichen Produkte, die Philosophien und
die Philosophen-Persönlichkeiten als direkte Forschungsgegenstände vor sich
hat? Bliebe eine solche Philosophiegeschichtsschreibung nicht notwendig im
Modus des Hypothetischen, da sie die angeblich zugrunde liegenden Triebe
nicht unmittelbar untersuchen, sondern immer nur postulieren kann?
19, 29-31 Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie
bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewoll-
ter und unvermerkter memoires] Selbstbekenntnisse lautet die schon lange land-
läufige Übersetzung des Titels von Aurelius Augustinus’ Confessiones, die N.
als höchst verräterisch galten, wenn man sich über das Christentum als verlo-
genen und verpöbelten Platonismus unterrichten wolle (vgl. NK 12, 33 f.). Im
19. Jahrhundert wurde „Selbstbekenntnis“ im Singular oder Plural inflationär
als Bezeichnung für alle möglichen Formen des religiösen, literarischen und
biographischen Exhibitionismus gebraucht. N. hingegen verwendete ihn spar-
sam, pointiert eigentlich nur in JGB 6 und in den oben zitierten Nachlasstexten,
sowie in einem Titelentwurf von 1885: „Gai saber. / Selbst-Bekennt-
nisse. / Von / Friedrich Nietzsche.“ Der darauf folgende Satz kassiert aber
bereits den Untertitel und das damit Versprochene: ,,S(elbst-Bekenntnisse}: Im
Grunde ist mir das Wort zu feierlich: ich glaube bei mir weder an das Bekennen
noch an das Selbst. / Im Grunde ist das Wort mir zu feierlich: wollte ich das
Buch aber so nennen, wie es mir besser gefiele, ,500 000 Meinungen4, so würde
es meinen Lesern zu possenhaft klingen“ (NL 1885, KSA 11, 34[1], 423, 1-10,
entspricht KGW IX 1, N VII1, 194, 2-18 u. 187, 2-10).
Memoiren oder vornehmer französisch memoires hatte N. zeit seines Le-
bens eine stattliche Anzahl gelesen - im persönlichen Umfeld allen voran die
Memoiren einer Idealistin Malwida von Meysenbugs -, dabei aber offensichtlich
nie das Verlangen verspürt, selbst solche „Erinnerungen“ niederzuschreiben.
 
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