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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0127
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Stellenkommentar JGB 6, KSA 5, S. 19-20 107

Memoiren gelten gemeinhin als Produkt einer gewollten und bewussten Erin-
nerungsanstrengung, so dass „ungewollte[.] und unvermerkte[.] memoires“ ei-
gentlich ein Oxymoron darstellen, es sei denn, man habe die in N.s Werk be-
gegnende sprach- und bewusstseinskritische Problematisierung des abendlän-
dischen Ich-Begriffs bereits verinnerlicht und halte dieses Ich damit nicht mehr
für den Herrn im eigenen Haus, der über seine Erinnerungen frei und souverän
verfügt. Erinnerungen - die französischen memoires können sowohl Memoi-
ren, schriftlich fixierte Denkwürdigkeiten als auch die Erinnerungen selbst
sein - widerfahren einem, ohne dass man über sie vollständige Kontrollgewalt
hätte.
Den Standardeinwand gegen die in 19, 29-31 vertretene Auffassung hat
schon früh Dutoit 1899, 4 formuliert: „Systeme sind aber nicht blos »Selbstbe-
kenntnisse ihrer Urheber4, diese Urheber selbst sind Repräsentanten ihrer
Zeit“. Zur Interpretation siehe Heit 2013a u. Lossi 2013, 115-117.
20, 6-9 Ich glaube demgemäss nicht, dass ein „Trieb zur Erkenntniss“ der Vater
der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Er-
kenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat.] Ob es
im Menschen einen natürlichen Erkenntnistrieb gibt, der auch zur Philosophie
führt, wurde im 19. Jahrhundert namentlich im Anschluss an Platons Philebos
(52a-b) unter Gelehrten diskutiert, so in dem N. aus Basler Zeit gut bekannten
Werk von Franz Susemihl: Die genetische Entwicklung der platonischen Philoso-
phie (vgl. Crescenzi 1994, 407, 411 u. 416): „Das ist es, was sich Platon p. 52. A.
f. kurz mit den Worten anzudeuten begnügt, dass es in Bezug auf die Erkennt-
niss Nichts von vorne herein in der Seele gebe, was dem Hunger und Durste
vergleichbar sei, nicht aber will er damit etwa seinen frühem Erörterungen
über den Eros entgegentreten, als ob es gar keinen Trieb zur Erkenntniss von
Hause aus in der Seele anzunehmen verstattet sei. Vielmehr schläft dieser Trieb
eben selber im Unbewusstsein“ (Susemihl 1857, 2/2, 40). Aristoteles sollte dann
behaupten, dass alle Menschen von Natur nach Erkenntnis strebten (Metaphy-
sik 1 1, 980a21). Auch in der Literatur zu Spinoza wird der Erkenntnistrieb im-
mer wieder zur zentralen Referenzgröße: „Die menschliche Erkenntniß drückt
[sc. für Spinoza] nur das Wesen der Dinge, und der menschliche Wille nur das
Wesen der Erkenntniß aus. Also wie komme ich zur Erkenntniß? Das ist die
Frage, auf die sich das ganze ethische Problem zurückführt, und die nicht
durch moralische Vorschriften, sondern methodisch gelöst sein will im Charak-
ter der mathematischen Demonstration. Es muß gezeigt werden, daß die Auf-
klärung des menschlichen Geistes einen vollkommen naturgemäßen Weg
beschreibt, daß der Trieb zur Erkenntniß nothwendig gegeben ist mit der
Natur des Menschen, und daß dieser Trieb mit gebieterischer Notwendigkeit
seine Befriedigung fordert.“ (Fischer 1854, 1, 510, fehlt in Fischer 1865.) Wenn
 
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