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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0133
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Stellenkommentar JGB 8, KSA 5, S. 21 113

man im 13ten Jahrhundert ebenfalls ein junges Mädchen, das schönste in der
Stadt aus, putzte es so prächtig als möglich, gab ihr ein niedliches Knäbchen
in die Arme und setzte sie so auf einen kostbar aufgeschirrten Esel. In diesem
Aufzuge, unter Begleitung der ganzen Klerisei und einer Menge Volks, führte
man den Esel mit der Jungfrau in die Hauptkirche und stellte ihn neben den
hohen Altar. Mit großem Pomp ward die Messe gelesen. Jedes Stück derselben,
nämlich der Eingang, das Kyrie, das Gloria, das Credo, wurde mit dem erbau-
lich-schnackischen Refrain Hmhan, Hmhan geendigt. Schrie der Esel
selbst den Refrain mit, desto besser. Wenn die Ceremonie zu Ende war, so
sprach der Priester nicht den Segen, oder die gewöhnlichen Worte, sondern er
juchte dreimal wie ein Esel, und das Volk, anstatt sein Amen anzustim-/327/
men, juchte wie der Priester. Zum Beschluß wurde noch Seiner Herrlichkeit
dem Esel (Sire Asne) zu Ehren ein halb lateinisches und halb französisches
Lied angestimmt. Hier sind die ersten Strophen: Orientis partibus / Adventavit
Asinus / Pülcher et fortissimus / Sarcinis aptissimus. / Hez, Sire Asne, carchan-
tez / Belle bouche rechignez, / Vous aurez du foin assez / Et de l’avoine a
planter. / Wer das Lied, dem manches in den Musenalmanachen und dem Al-
manac des Muses an Erfindung weicht, ganz lesen will, kann es in dem Wörter-
buch des du Cange unter dem Artikel Festum im dritten Band S. 424 finden.“
(Lichtenberg 1867, 5, 326 f., vgl. auch Lecky 1873, 2, 244 u. Naumann 1899-
1901, 2, 178-191, genaue Nachweise in KGW VI 4, 938 u. KGB III 7/2, 76).
Nun ist es zwar richtig, dass N. in Lichtenbergs Schriften gelesen hat (aus-
führlich dazu Stingelin 1996), jedoch konnte er das Eselsfest durchaus auch in
einer Reihe anderer Quellen finden, unter seinen Büchern etwa innerhalb einer
längeren Auslassung über Esel und Eselsohren, die Carl Julius Weber im Demo-
kritos zu bedenken gab: „Diese Lobreden freuen mich mehr als tausend Lobre-
den von und an Esel, die sogar gedruckt in schwerer Menge vorliegen; aber
von Herzen stimme ich in die Eselshymne, die vielleicht noch zu Verona ange-
stimmt wird: Orientis partibus / Adventavit Asinus / Pülcher et fortissimus /
Sarcinis aptissimus. / Lentus erat pedibus, / Nisi foret baculus / Et eum in
clunibus / Pungeret aculeus. / Dieser Esel war ein unbezweifelter Sprößling
dessen, auf dem Jesus seinen Einzug in Jerusalem gehalten hatte, und zum
Andenken spielte der Esel in frömmeren Zeiten am Palmsonntag in allen Dom-
kirchen seine Rollen, und fromme Kinder ritten auf dem heiligen Grauchen
und überhäuften es mit Opfern. [...] / Ueberzeugt, daß der Eigensinn des Esels
lediglich von den langen Ohren herrührt, womit er mehr und leichter als Ande-
re hört, und daß /255/ seine Ungestalt sich unter besserer Pflege verlieren wür-
de, wie in den eigentlichen Eselslanden, hege ich alle Achtung gegen dieses
Thier. Kommen wir nicht selbst in Verdacht eines eselmäßigen Eigensinns,
wenn wir gut hören und doch nicht sagen mögen oder dürfen, was wir gehört
 
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