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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0134
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114 Jenseits von Gut und Böse

haben, und sagen wir es, so macht man aus unsern kurzen Ohren Langohren
mit soviel Unrecht, als man in Bücher Eselsohren macht, wo man besser Pa-
pierzeichen hineinlegte.“ ([Weber] 1868, 6, 254 f., keine Lesespuren N.s. Ebd.,
254, Fn. 2 findet sich noch eine Übersetzung des lateinischen Hymnus: „Da
nun kam von Osten her / Auch ein Esel hoch und hehr, / Schön war er und
stark auch sehr, / Und bereit zu Lasten schwer. / Allerdings war langsam er, /
Doch ein Stock war ja nunmehr / Auch zur Hand der hinterher / Ihn in Eile
trieb einher.“)
Interessanterweise kommentiert Wilhelm Langhans im ersten Band seiner
Geschichte der Musik des 17.18. und 19. Jahrhunderts, der 1884, also genau zur
Abfassungszeit von N.s erster einschlägiger Äußerung, erschienen ist, die mit-
telalterliche Tradition der Mysterien sowie der Esels- und Narrenfeste ausführ-
lich: „Von nun an nehmen die Mysterien mehr und mehr einen künstlerischen
Charakter an: der dramatische Theil gewinnt durch die auf Darstellung und
Ausstattung verwendete Sorgfalt immer höhere Bedeutung, der musikalische
aber nicht minder durch die Vermischung des volksthümlichen Musikelemen-
tes mit dem kirchlichen [...]. Zu welch grobem Unfug die bei gewissen Gelegen-
heiten von der Geistlichkeit dem Volke gemachten Zugeständnisse führten, zei-
gen u. a. die am Ausgange des Mittelalters in verschiedenen Ländern, haupt-
sächlich in Frankreich gefeierten Eselsfeste und Narrenfeste. Bei dem
ersteren, welches an die Flucht der heiligen Familie nach /43/ Egypten erin-
nern sollte, führte man einen mit einer Mönchskutte behängten Esel durch die
Strassen in die Kirche, der Priester intonirte vom Altar aus den sogenannten
Eselsgesang: Orientis partibus / Adventavit asinus, / Pülcher et fortissimus /
Sarcinis aptissimus. / Hez, sire Asne etc. / und ahmte als Refrain, an Stelle des
,Amen‘ das Geschrei des Esels nach, welches die Gemeinde antiphonenartig
beantwortete, während sie dabei den Gegenstand der Feier umtanzte. Das Nar-
renfest wurde um die Wintersonnenwende gefeiert, zur Erinnerung an die alt-
römischen Saturnalien mit ihrer zeitweiligen Freiheit der Sclaven; man wählte
bei dieser Veranlassung einen Narrenbischof, der die Messe celebrirte, wäh-
rend die übrige Geistlichkeit und das Volk, als wilde Bestien vermummt — ein
Nachklang der Thierkämpfe im römischen Circus — sich in der Kirche herum-
balgten und die grössten Excesse begingen.“ (Langhans 1884, 42 f.) Der Kolum-
nentitel auf der Seite mit dem lateinischen Zitat lautet: „Geistliche Schauspiele.
Mysterien. Eselsfeste. Narrenfeste.“ (Ebd., 43) Das „Mysterium“, das bei N. an
allen drei „asinus“-Stellen vorkommt, steht nur hier (wenngleich im Plural),
aber nicht bei den anderen möglichen Quellen, so dass die Vermutung zumin-
dest nicht ganz abwegig ist, N. sei nicht bei Lichtenberg, sondern bei Lang-
hans - dessen Werk sich freilich nicht in seiner Bibliothek befindet - auf das
Zitat gestoßen (zur Brünstigkeit des Esels vgl. NK KSA 6, 123, 30-124, 3).
 
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