Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0138
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
118 Jenseits von Gut und Böse

tiefgreifenden Vergleichgültigung gewöhnlicher Lebensziele und Lebensinhal-
te verstehen (zu den bereits von Karneades diagnostizierten Widersprüchen in
der stoischen Lehre von den äötatpopa siehe unter N.s Lektüren Weygoldt 1883,
93). Aber bei den Stoikern ist die Natur selbst keineswegs moralisch indiffe-
rent, sondern vielmehr jene wohlgefügte Ordnung, die das menschliche Indivi-
duum in seinem Tugendstreben imitieren soll. JGB 9 weist nicht nur den stoi-
schen Naturbegriff zurück, sondern erhebt die der Natur nun unterstellte
Gleichgültigkeit selbst zu einer „Macht“, die wiederum den Stoiker in arge Be-
drängnis zu bringen vermag - in viel stärkere Bedrängnis, als es die äöiacpopa
vermochten, beruhte deren Ausgrenzung doch auf der Überzeugung, dass das
Universum insgesamt vernünftig (und damit moralisch) organisiert sei. Stoiker
traditionellen Zuschnitts könnten eben nicht „gemäss dieser Indifferenz le-
ben“, weil es eine Indifferenz der Natur für sie nicht geben darf, ohne dass sie
ihre metaphysische Überzeugung preisgeben müssten.
Jüngst hat Robin Pompey darauf hingewiesen, dass die Stoa-Kritik von JGB
9 bis in ihre dialogische Struktur hinein große Ähnlichkeiten mit entsprechen-
den Äußerungen in Plutarchs Polemik De communibus notiis adversus Stoicos
aufweist, die sich in deutscher Übersetzung auch in N.s Bibliothek befunden
hat. Die einschlägigen Passagen (Plutarch 1861, 3096 f. und 3118 f., nachgewie-
sen bei Pompey 2015, 488 f.) resümieren die antike Kritik am stoischen Natur-
begriff auf einprägsame Weise (zu N. und Plutarch siehe auch Ingenkamp
1988).
22, 1-7 Leben — ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur
ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Diffe-
rent-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ „gemäss der Natur leben“ bedeute
im Grunde soviel als „gemäss dem Leben leben“ — wie könntet ihr’s denn
nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst?]
Das erste Argument steht in Widerspruch zur stoischen Fundamentalannahme,
dass es in unserem Selbstformungsbemühen darum zu tun sein soll, so (ver-
nünftig, moralisch) zu werden, wie es voraussetzungsgemäß die Natur selbst
ist. Dagegen wird ein alternativer, nicht normativer, sondern deskriptiver, aus
den darwinistischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts gewonnener Lebensbe-
griff in Anschlag gebracht. Wer die ersten beiden (rhetorischen) Fragen in 22,
1-7 bejaht, ist für ein stoisches Denken nach traditioneller Maßgabe verloren.
Das zweite Argument reformuliert den Standardeinwand gegen die stoische
Ethik, der zufolge das Leben gemäß der Natur ein Leben gemäß der Tugend ist
(vgl. Arnim 1903-1924, 1, 180), nämlich den Einwand der Tautologie, wenn
„gemäss der Natur leben“ einfach bedeutet, so zu leben, wie man ohnehin lebt.
Dieser Tautologie-Vorwurf sticht aber erst unter der Voraussetzung, dass man
den normativen und metaphysisch-moralischen Naturbegriff der Stoa aufgibt
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften