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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0139
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Stellenkommentar JGB 9, KSA 5, S. 22 119

und stattdessen einen modernen naturwissenschaftlichen Naturbegriff imple-
mentiert. Für die Stoiker verhielt es sich nach N.s Gewährsmann hingegen fol-
gendermaßen: „Die Glückseligkeit soll, wie wir wissen, im naturgemässen Le-
ben bestehen. Dieses /53/ naturgemässe Leben ist aber identisch mit dem tu-
gendhaften. Folglich ist es nur ein andrer Ausdruck, wenn wir sagen, die
Glückseligkeit beruhe auf der Tugend. Wer das eine besitzt, hat auch das ande-
re; beide unterscheiden sich nur wie Ursache und unzertrennlich damit ver-
bundene Folge. Da aber das tugendhafte Leben wieder mit dem vernünftigen
identisch ist, so beruht die Tugend letzten Endes auf der Vernunft, dieser allei-
nigen Grundlage alles sittlichen Handelns.“ (Weygoldt 1883, 52f.) Die stoische
Identifikation der Natur mit der Vernunft wird im modernistischen Naturbild
von JGB 9 zurückgewiesen, um so mit der stoischen (Meta-)Physik auch der
stoischen Ethik die Grundlage zu entziehen.
22, 7-22 In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures
Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wun-
derlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der
Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass
sie „der Stoa gemäss“ Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen
Bilde dasein machen — als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallge-
meinerung des Stoicismus! Mit aller eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so
lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu
sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, — und irgend ein abgründli-
cher Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass, weil
ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht — Stoicismus ist Selbst-Tyrannei —, auch
die Natur sich tyrannisiren lässt: ist denn der Stoiker nicht ein Stück Natur?.]
Gemäß dieser Argumentation verkennen die Stoiker nicht nur das Wesen der
Natur, sondern projizieren darauf ihr eigenes Wunschbild („nach eurem eignen
Bilde“, vgl. auch KSA 5, 22, 25 u. Genesis 1, 26 f.), modellieren die Natur also
derart, dass sie daraus ihre eigenen Lebensmaßstäbe abzuleiten im Stande
sind - Maßstäbe, die ,,[i]n Wahrheit“ bloß aus den spezifischen Lebensbedürf-
nissen der Stoiker selbst und eben nicht aus der Natur gewonnen sind. Wenn
sich JGB 9 hier bemüht, den Stoikern eine petitio principii nachzuweisen, be-
ruht dieser Nachweis darauf, dass das Text-Ich tatsächlich (zumindest besser)
weiß, wie die Natur „in Wahrheit“ ist - dass es also über eine von eigenen
Projektionen unabhängige(re) Wirklichkeitserkenntnis verfügt. Dies plausibel
zu machen, dürfte schwierig sein, so dass JGB 9 nicht den Weg nüchterner
Herleitung einschlägt, sondern ad personas agiert, wenn die Stoiker als
„Schauspieler und Selbst-Betrüger“ mit „Tollhäusler-Hoffnung“ diskreditiert
werden. Der Vorwurf der Schauspielerei, die Täuschung impliziert, kehrt in
N.s Schriften von 1888 dort unentwegt wieder, wo die Entlarvung der allseits
 
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