Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0141
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 9, KSA 5, S. 22 121

in Genesis 1, 26 f. erklärten Willen des Schöpfergottes an, den Menschen nach
seinem Bilde zu schaffen (zur Metapher der Bildsäule siehe NK 118, 20-22):
Ausdrücklich Weltschöpfungswillen attestiert das Ende von JGB 9 nun auf der
Folie der biblischen Schöpfungsgeschichte den selbstgewissen Philosophen
(vgl. zu diesem Wetteifern der Philosophen mit Gott auch FW Vorrede 4). Ob-
wohl sich die Sprecherinstanz von JGB 9 von dieser Art der Philosophie nicht
nur in ihrer stoischen Variante abgrenzt, nachdem sich das Text-Ich in JGB 2
schon als Freund und Vorläufer künftiger „Philosophen des gefährlichen Viel-
leicht“ (KSA 5, 17, 10) zu erkennen gegeben hat, hält man N. doch gemeinhin
für den Propagandisten einer,Lehre4 vom „Willen zur Macht“. Dieser „Wille zur
Macht“ - in JGB 13 wird es heißen: „Leben selbst ist Wille zur Macht“ (KSA 5,
27, 30) - taucht in JGB 9 erstmals in diesem Werk überhaupt namentlich auf,
aber offensichtlich nicht in affirmativer, sondern in kritischer Absicht, nämlich
um zu demonstrieren, was JGB 1 und 2 postuliert haben: dass hinter dem philo-
sophischen „Willen zur Wahrheit“ womöglich etwas ganz anderes steht, näm-
lich eben jener „Wille zur Macht“. Nimmt man die Identifikation von Leben
und Willen zur Macht in JGB 13 zum Richtmaß und hält man N. für den Philoso-
phen, der diese Identifikation behauptet, könnte man an der in JGB 9 artiku-
lierten Philosophen-Schelte irre werden, denn das philosophische Tun wäre
dann nichts weiter als der Ausdruck des Lebens selbst und damit des Willens
zur Macht - eines Willens zur Macht, der im Übrigen nicht dekadent wirkt,
sondern kreativ, zielt er doch auf Welterschaffung, auf die Etablierung einer
Ersten Ursache, eben einer „causa prima“ ab. Um diese Irritation zu vermei-
den, wird man dagegenhalten, die Kritik bestehe erstens darin, dass Philoso-
phen wie die Stoiker ihren Machtwillen (auch sich selbst gegenüber) nicht zu-
gäben, sondern hinter einem angeblich reinen Wahrheitswillen zu verbergen
trachteten; zweitens darin, dass solche Philosophen offensichtlich die Reich-
weite und Potenz ihres Denkens weit überschätzten, nämlich die Natur bezwin-
gen und einen völlig neuen Anfang setzen zu können. Auch wenn man diese
Strategie der Irritationsvermeidung für zielführend hält, bleibt womöglich ein
Unbehagen, das den im Theorem des Willens zur Macht allenfalls verborgenen
Anspruch betrifft, über das Wesen der Natur ebensogut Bescheid zu wissen
wie einst nach eigenem Dafürhalten die Stoiker: Ist da nicht ebenfalls eine
tyrannische philosophische „Überzeugung“ am Werk?
Bemerkenswert und deutungsbedürftig ist schließlich, dass N. die von ihm
hier in Anführungszeichen gesetzte Wendung „Schaffung der Welt“ (unter
Theologen und Literaten sind sonst die Formeln „Erschaffung der Welt“ oder
„Schöpfung der Welt“ üblich - vgl. M 113, KSA 3, 103, 31) nur noch einmal
benutzt: in seinem allerletzten brieflichen Zeugnis, dem sogenannten Wahn-
sinnszettel an Jacob Burckhardt, der vom 06. 01.1889 datiert: „Lieber Herr Pro-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften