Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0143
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB 10, KSA 5, S. 22-23 123

nationalistischen Kreisen des 20. Jahrhunderts (namentlich bei Oswald Speng-
ler und Ernst Jünger), die den Heroismus der auf verlorenem Posten Kämpfen-
den glorifizieren, ist bei N. wenig Sympathie für die „Partei“ oder die „Meta-
physiker“ zu verspüren, die sich auf verlorenen Posten begeben. Aber in Ver-
bindung mit dem „heroischen Realismus“ (Baeumler 1931, 15), der N. in
denselben Kreisen nachgesagt wurde, konnte die Äußerung dann als N.s Be-
kenntnis zum „Ehrgeiz des verlornen Postens“ verstanden werden.
Für N.s spezifischen Gebrauch des Idioms lässt sich keine direkte Quelle
nachweisen. Ausgerechnet der von den späteren Liebhabern des „verlorenen
Postens“ wenig geschätzte Heinrich Heine hatte ihm unter dem Titel Enfant
Perdu im Lazarus-Zyklus der letzten von ihm zu Lebzeiten veröffentlichten Ge-
dichtsammlung Romanzero 1851 ein berühmtes lyrisches Denkmal gesetzt,
nicht ohne ironischen Zungenschlag: „Verlor’ner Posten in dem Freiheitskrie-
ge, / Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus. / Ich kämpfe ohne Hoffnung,
daß ich siege, / Ich wußte, nie komm’ ich gesund nach Haus. [...] Doch fall’
ich unbesiegt, und meine Waffen / Sind nicht gebrochen - nur mein Herze
brach.“ (Heine 1856, 176 f.) Eine direkte Romanzero-Lektüre N.s ist allerdings
nicht belegt (zu N. und Heine siehe NK KSA 6, 286, 14-24).
23, 8-12 es mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lie-
ber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen.
Aber dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden See-
le] Erstmals wird hier in einem Werk N.s das berühmte Stichwort „Nihilismus“
verwendet, das dann später in GT Versuch einer Selbstkritik 7, in FW 346 und
347, in GM sowie in den Schriften von 1888 wiederkehrt, auch in adjektivischer
Form („nihilistisch“) und personalisiert („Nihilisten“). Im Nachlass finden sich
entsprechende Ausdrücke bereits 1880 (KSA 9, 4[103], 125, 26 u. 4[108], 127,
28); die ersten Notate gehen, wie Kuhn 1992, 22-38 detailliert nachweist, auf
Anregungen von Iwan Sergejewitsch Turgenew und Prosper Merimee zurück.
Das große Gewicht, das das Nihilismus-Thema in N.s letzten beiden Schaffens-
jahren erhält (vgl. z. B. NK KSA 6, 172, 25 f.), fehlt bei der Evokation in JGB 10
und überhaupt in JGB: Mit Ausnahme des in JGB 208, KSA 5,137,13 f. bemühten
,,Russische[n] Nihilin[s]“ wird das Wortfeld des Nihilismus in diesem Werk
nicht weiter bestellt. Nihilismus ist in JGB 10 noch keine Epochen-, sondern
eine Individualdiagnose, die jene Philosophen betrifft, die bereit sind, eher für
„ein sicheres Nichts“ statt wie die letztlich unredlichen Metaphysiker in der
Nachfolge Kants für „ein ungewisses Etwas“ - sei es Gott, sei es das Ding an
sich - zu optieren, ja dafür zu „sterben“. Der „Wille zur Wahrheit“, der nach
dem Eingang von JGB 10 nur in „seltenen Fällen“ hinter der Frage nach „der
wirklichen und der scheinbaren Welt“ steht, ist also selbst dann nicht die letzte
Motivationsgrundlage des Forscherdrangs. Vielmehr liegt dessen Herkunft im
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften