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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0144
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124 Jenseits von Gut und Böse

Willen zum Nichts „einer verzweifelnden sterbensmüden Seele“ (die konnte N.
auch in Bourgets Essais finden, vgl. z. B. Bourget 1883, 17 u. 143). Nihilismus
ist hier also keine beliebige Weltanschauung, die man wie ein Hemd wechseln
kann, sondern Ausfluss einer psychischen Disposition. In bald folgenden Tex-
ten N.s wird diese Disposition ganzen Gesellschaften zugeschrieben. Zur Inter-
pretation von 23, 8-12 siehe auch Kuhn 1992, 51 u. Poljakova 2010, 132, allge-
mein Tongeren 2012a; zum Puritanismus NK 80, 12-24.
23, 12 f. wie tapfer auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen
mögen] Im Druckmanuskript hieß es ursprünglich: „denn um Sterben und Zu-
Grunde-gehn handelt es sich überall, wo [man] aus seiner Tugend dergestalt
eine Ausschweifung macht“ (KSA 14, 349).
23,13-16 Bez den stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern
scheint es aber anders zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen
und das Wort „perspektivisch“ bereits mit Hochmuth aussprechen] Gegenüber
dieser Auffassung der „nach Leben noch durstigen Denker“ hat die Vorrede zu
JGB die Unhintergehbarkeit des Perspektivischen betont (vgl. NK 12, 23-26).
Der Repräsentant dieser Philosophie, die nur ein hochmütiges Verhältnis zum
„Wort »perspektivisch“4 unterhält, dürfte Gustav Teichmüller sein, der zwar oft
über das Perspektivische und die perspektivische Gebundenheit bisheriger Phi-
losophie sprach, aber selten, ohne vor „perspektivisch“ ein abwertendes
„bloss“ zu setzen: „die Lehren, welche Kant als »Dogmatismus4 und als die
Erkenntnisskräfte überschreitend tadelt, überschreiten zwar nicht die Erkennt-
nisskräfte, projiciren aber die metaphysischen Begriffe nach Aussen und erzeu-
gen bloss perspectivische Weltbilder, und wenn Kant statt »dogmatisch4,
was er freilich von seinem Standpunkte aus nicht konnte, »perspectivisch4
gesagt hätte, so würden wir bei ihm schon auf festem Boden stehen“ (Teich-
müller 1882, XVIII). Auch Karl Jaspers notierte zu 23, 13-16 an den Rand:
„Teichmüller?“ (Nietzsche 1923, 18).
23, 16-21 indem sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so ge-
ring anschlagen wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt „die
Erde steht still“, und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz
aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen Leib?)]
Das Argument für die in der Vorrede von JGB behauptete Unhintergehbarkeit
einer perspektivischen Sicht gründet nach dieser Passage auf der Unhintergeh-
barkeit der Leiblichkeit, und zwar einer individuierten Leiblichkeit: Jede Er-
kenntnis ist an ein Individuum gebunden, das Leib ist. Postuliert wird damit
offenbar nicht nur die genetische Abhängigkeit jeder Erkenntnis von einem
individuellen Leib an einer bestimmten raum-zeitlichen Stelle, sondern auch,
dass die Erkenntnis diese Gebundenheit nie abstreifen und allgemein, perspek-
 
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