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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0156
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136 Jenseits von Gut und Böse

24, 29 niaiserie allemande] Französisch: „deutsche Einfalt“, „deutsche Albern-
heit“. In NL 1884, KSA 11, 26[412], 261, 26-28 wird bemerkt, dass die „niaiserie
allemande“ „dem Ausländer an unseren besten Köpfen auffällt (selbst an Goe-
the)“. Dies wiederum verrät die Quelle der Formulierung (vgl. NK KSA 6, 157,
5), nämlich Prosper Merimees Lettres ä une inconnue (vgl. NL 1884, KSA 11,
26[420], 263): ,Je lis Wilhelm Meister, ou je le relis. C’est un etrange livre, oü
les plus beiles choses du monde alternent avec les enfantillages les plus ridicu-
les. Dans tout ce qu’a fait Goethe, il y a un melange de genie et de niaiserie
allemande des plus singuliers: se moquait-il de lui-meme ou des autres? Faites-
moi penser ä vous donner ä lire ä mon retour, les Affinites electives. C’est, je
crois, ce qu’il a fait de plus bizarre et de plus antifrangais“ (Merimee o.J., 2,
152. „Ich lese Wilhelm Meister oder ich lese ihn wieder. Dies ist ein sonderbares
Buch, wo die schönsten Dinge der Welt sich mit lächerlichsten Kindereien ab-
wechseln. In allem, was Goethe gemacht hat, gibt es eine Mischung von Genie
und einzigartiger deutscher Einfalt: Hat er sich über sich selbst oder über die
anderen lustig gemacht? Erinnern Sie mich daran, Ihnen bei meiner Rückkehr
die Wahlverwandtschaften zum Lesen zu geben. Ich denke, es ist das Seltsams-
te, was er gemacht hat, und das Antifranzösischste.“)
24, 31-25,1 der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein moralisches
Vermögen im Menschen hinzu entdeckte] In der Kritik der praktischen Vernunft
sprach Kant selbst vom ,,moralische[n] Vermögen des Menschen“ (AA V, 127),
in der Metaphysik der Sitten vom ,,sittliche[n] Vermögen“ (AA VI, 404). Bei
Kuno Fischer werden beide Begriffe enggeführt und erhalten einen prominen-
ten Status: „Die erkennende Vernunft ist theoretisch, die handelnde praktisch:
also kann das sittliche oder moralische Vermögen, wenn es überhaupt existirt,
nur in der praktischen Vernunft entdeckt werden. Ob ein solches Vermögen
existirt und worin es besteht, untersucht die ,Kritik der praktischen
Vernunft4.“ (Fischer 1882, 4, 55).
25, If. denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar
noch nicht „real-politisch“] Im Deutschen Kaiserreich gehörte die Unterschei-
dung von Real- und Idealpolitik bereits zum allgemeinen Lexikon-Wissen:
„Man bezeichnet nämlich mit Realpolitik diejenige P[olitik], welche sich
streng an das praktische Bedürfnis hält, und stellt ihr die I d e a 1 p o 1 i t i k ge-
genüber, die sich lediglich durch die Macht der Idee beherrschen läßt. Beide
sind in ihrer Einseitigkeit verwerflich. Denn die Realpolitik wird sich, wenn sie
des idealen Zugs völlig entbehrt, in kleinlicher Weise lediglich auf die Förde-
rung materieller Interessen (Interessenpolitik) beschränken, während
die Idealpolitik, welche den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen verliert
(Phantasiepolitik, Gefühlspolitik), unfruchtbar, wenn nicht verderb-
 
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