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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0159
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Stellenkommentar JGB 11, KSA 5, S. 25 139

de.“‘) Schellings „intellektuale Anschauung“ ist bei Schopenhauer ein häufig
wiederkehrendes Reizwort, das ihm den Niedergang der deutschen Philosophie
nach Kant und deren Verrat an dessen kritischen Grundsätzen demonstrierte
(vgl. z. B. Schopenhauer 1873-1874, 2, 574). In der Preisschrift über die Freiheit
des Willens attackierte Schopenhauer Schellings Abhandlung Über das Wesen
der menschlichen Freiheit, dem auch die oben zitierten Lektüre-Notizen galten,
und zwar wie JGB 11 sowohl ausdrücklich unter Bezugnahme auf ein „Vermö-
gen“ als auch in scharfer Polemik gegen die moralphilosophischen und meta-
physisch-theologischen Ansprüche des nachkantischen Denkens: „Außer die-
ser Paraphrase Kantischer Gedanken enthalten jene »Untersuchungen über die
Freiheit4 nichts, was dienen könnte, uns neue oder gründliche Aufklärungen
über dieselbe zu verschaffen. Dies kündigt sich auch schon gleich Anfangs
durch die Definition an: die Freiheit sei ,ein Vermögen des Guten und Bösen4.
Für den Katechismus mag eine solche Definition tauglich seyn: in der Philoso-
phie aber ist damit nichts gesagt und folglich auch nichts anzufangen. Denn
Gutes und Böses sind weit davon entfernt einfache Begriffe (notiones simpli-
ces) zu seyn, die, an sich selbst klar, keiner Erklärung, Feststellung und Be-
gründung bedürften. Ueberhaupt handelt nur ein kleiner Tbeil jener Abhand-
lung von der Freiheit: ihr Hauptinhalt ist vielmehr ein ausführlicher Bericht
über einen Gott, mit welchem der Herr Verfasser intime Bekanntschaft verräth,
da er uns sogar dessen Entstehung beschreibt; nur ist zu bedauern, daß er mit
keinem Worte erwähnt, wie er denn zu dieser Bekanntschaft gekommen sei.
Den Anfang der Abhandlung macht ein Gewebe von Sophismen, deren Seich-
tigkeit Jeder erkennen wird, der sich durch die Dreistigkeit des Tons nicht ein-
schüchtern läßt. / Seitdem und in Folge dieses und ähnlicher Erzeugnisse ist
nun in der Deutschen Philosophie an die Stelle deutlicher Begriffe und redli-
chen Forschens »intellektuale Anschauung4 und /85/ »absolutes Denken4 getre-
ten: Imponiren, Verdutzen, Mystifiziren, dem Leser durch allerlei Kunstgriffe
Sand in die Augen streuen, ist die Methode geworden, und durchgängig leitet
statt der Einsicht die Absicht den Vortrag. Durch welches Alles denn die Philo-
sophie, wenn man sie noch so nennen will, mehr und mehr und immer tiefer
hat sinken müssen, bis sie zuletzt die tiefste Stufe der Erniedrigung erreichte
in der Minister-Kreatur Hegel: dieser, um die durch Kant errungene Frei-
heit des Denkens wieder zu ersticken, machte nunmehr die Philosophie, die
Tochter der Vernunft und künftige Mutter der Wahrheit, zum Werkzeug der
Staatszwecke, des Obskurantismus und protestantischen Jesuitismus: um aber
die Schmach zu verhüllen und zugleich die größtmöglichste Verdummung der
Köpfe herbeizuführen, zog er den Deckmantel des hohlsten Wortkrams und
des unsinnigsten Gallimathias, der jemals, wenigstens außer dem Tollhause,
gehört worden, darüber“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/1, 84 f.).
 
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