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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0162
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142 Jenseits von Gut und Böse

stellen die Moliere-Zeilen in der zeitgenössischen Literatur geradezu einen lo-
cus probans für verfehlte philosophische Argumentationen dar: „Man braucht
nicht ein Gegner der metaphysischen Theorie überhaupt zu sein, um den ein-
zelnen Systen unfruchtbare oder willkührliche Speculationen vorzuwerfen. So
urtheilt fast jeder selbstständige Systematiker über die anderen. Die angebli-
chen Erklärungen, welche sich begnügen, das zu erklärende Phänomen in ab-
stracterer Umschreibung wiederzugeben, oder den Erscheinungen ein dem In-
halt nach gleiches Wesen, dem Denken das Denkvermögen, dem Leben die
Lebenskraft gegenüberzustellen, sind nichtssagende Tautologien, die Moliere
treffend verspottet, wenn sein Malade imaginaire auf die Examensfrage, wa-
rum Opium schlafen mache, die beifallswürdige Antwort giebt: / quia est in
eo / virtus dormitiva / cujus est natura / sensus assoupire.“ (Twesten 1872, 1,
42. Liebmann 1880, 330 spricht unter ausdrücklichem Bezug auf die Moliere-
Stelle von „Einschläferungskraft“).
N. hat selbst gelegentlich zu Opium-Präparaten gegriffen (vgl. Volz 1990,
169) und dies auch dichterisch verarbeitet (vgl. NK KSA 3, 340, 8 f. u. NK KSA
3, 340, 14 f. sowie NK KSA 3, 340, 18-22). Über deren Wirkung konnte er sich
beispielsweise in Carl Ernst Bocks Buch vom gesunden und kranken Menschen
unterrichten (Bock 1870, 324 f.).
25, 27-26, 5 Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist
endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urtheile a priori
möglich?“ durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist der Glaube an solche
Urtheile nöthig?“ — nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von
Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb
sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und
grob und gründlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht „möglich
sein“: wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Ur-
theile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig als ein Vorder-
grunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens ge-
hört.] Der philosophische Ertrag von JGB 11 wird hier formuliert. Er besteht
darin, Kants Behauptung, synthetische Urteile a priori seien möglich, (auch
gegen Schopenhauer) ganz zurückzunehmen und damit zu einer Position zu-
rückzukehren, die Kant im Empirismus und namentlich bei David Hume gefun-
den hatte. Der Mehrwert der eigenen Sicht im Vergleich zum vorkantischen
Empirismus wird offensichtlich in der genealogischen Frage gesehen, welche
Bedürfnisse denn den Glauben an die Möglichkeit solcher Urteile hervorge-
bracht haben. Die Schlusspolemik von JGB 11 in 26, 5-15 lässt vermuten, dass
ein historisch sehr konkretes, metaphysisch-religiöses Sicherheitsverlangen
am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diesen Glauben
hervorgebracht haben. In 26, 3-5 scheint demgegenüber eher eine allgemeine
 
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