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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0163
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Stellenkommentar JGB 12, KSA 5, S. 25-26 143

anthropologische These intendiert zu sein, der zufolge die Perspektivität des
Lebens selbst den Glauben an die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori
verlangt. Gegen eine solche These mag freilich sprechen, dass viele Denker vor
und nach Kant eine solche Möglichkeit gerade bestreiten. Überdies kommt die-
se These trotz aller Polemik Kants Auffassung bedenklich nahe, wenn man sie
so versteht, dass menschliches Bewusstsein von seiner Disposition her zu sol-
chen Urteilen gezwungen sei. Die Zutat von JGB 11 wäre dann nur der Verweis
auf das „Leben“, auf die Lebensbedingtheit eines solchen Zwanges.
26, 5-15 Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche „die
deutsche Philosophie“ — man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüss-
chen? — in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse
virtus dormitiva dabei betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggän-
gern, Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen
Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift
gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhun-
dert in dieses hinüberströmte, kurz — „sensus assoupire“ ] Statt ironisieren-
den „Gänsefüsschen“ hat Schopenhauer an der entsprechenden Stelle von der
,,Deutsche[n] sogenannte[n] Philosophie“ (Schopenhauer 1873-1874, 1/1, 123)
gesprochen (siehe NK 25,10-17). Dass hier der „Sensualismus“, also jene Philo-
sophie, die ihr Lehrgebäude auf die Sinne(seindrücke) abstellt, als jene intel-
lektuelle Macht benannt wird, gegen die sich die idealistische deutsche Philo-
sophie nach Kant gewandt habe, während die oben zitierten Vorarbeiten NL
1885, KSA 11, 34[82] und 38[7] noch den Rationalismus und die Skepsis nennen,
ist zum einen der Wortspiel-Logik geschuldet: Am Ende des Abschnittes steht
noch einmal die letzte Zeile des Moliere-Zitates. „Die Sinne einzuschläfern“, ist
die Absicht dieser obskurantistischen Philosophie, also muss der Sensualis-
mus der Gegner sein. Zum anderen verknüpft die Evokation des Sensualismus
JGB 11 mit JGB 14 und JGB 134, wo der Sensualismus wiederholt zur Geltung
gebracht wird, und sorgt so für stärkere Textkohärenz über die Abschnittgren-
zen hinaus (vgl NK 28, 5-26 u. 96, 16 f.).

12.
Den Grundgedanken des ersten Teiles von JGB 12 enthält bereits N.s Brief an
Köselitz vom 20. 03.1882: „Ich las in R(obert} Mayer: Freund, das ist ein gros-
ser Spezialist — und nicht mehr. Ich bin erstaunt wie roh und naiv er in allen
allgemeineren Aufstellungen ist: er meint immer Wunder wie logisch zu sein
wenn er bloss eigensinnig ist. Wenn irgend Etwas gut widerlegt ist so ist es
das Vorurtheil vom ,Stoffe4: und zwar nicht durch einen Idealisten sondern
 
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