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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0164
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144 Jenseits von Gut und Böse

durch einen Mathematiker — durch Boscovich. Er und Copernikus sind die bei-
den grössten Gegner des Augenscheins: Seit ihm giebt es keinen Stoff
mehr, es sei denn als populäre Erleichterung. Er hat die atomistische Theorie
zu Ende gedacht. Schwere ist ganz gewiß keine »Eigenschaft der Materie4,
einfach weil es keine Materie giebt. Schwerkraft ist, ebenso wie die vis
inertiae, gewiß eine Erscheinungsform der Kraft (einfach weil es nichts anderes
giebt als Kraft!): nur ist das logische Verhältniß dieser Erscheinungsform zu
anderen, zb. zur Wärme, noch ganz undurchsichtig. — Gesetzt aber, man
glaubt mit M(ayeQ noch an die Materie und an erfüllte Atome, so darf man
dann nicht dekretiren: ,es giebt nur Eine Kraft4. Die kinetische Theorie muß
den Atomen mindestens außer der Bewegungsenergie noch die beiden Kräfte
der Cohaesion und der Schwere zuerkennen. Dies thun auch alle materialisti-
schen Physiker und Chemiker! und die besten Anhänger M(ayer}s selber. Nie-
mand hat die Schwerkraft aufgegeben! — Zuletzt hat auch M(ayer} noch eine
zweite Kraft im Hintergründe, das primum mobile, den lieben Gott, — neben
der Bewegung selber. Er hat ihn auch ganz nöthig!“ (KSB 6/KGB III/l, Nr. 213,
S. 183 f., Z. 32-57. Die Paarung von Kopernikus und Boscovich als Gegner des
,,Stoff-Aberglauben[s]44 wurde bereits in NL 1881, KSA 9, 15[21], 643 vollzogen,
siehe NK 26, 22-30.) Eine briefliche Äußerung gegenüber Köselitz von Ende
August 1883 weist zurück auf N.s Lektüren in der Basler Zeit; tatsächlich hat
er schon 1873 und 1874 die Philosophiae naturalis theoria redacta (Wien 1759)
des jesuitischen Physikers und Mathematikers Ruggiero Giuseppe Boscovich
(Rugjer Josip Boskovic, 1711-1787) aus der Basler Universitätsbibliothek entlie-
hen (Crescenzi 1994, 420, 423, 426 u. 428). Im fraglichen Brief an Köselitz
schrieb N.: „Damals trieb ich die Atomenlehre bis hin zum Quartanten des
Jesuiten Boscovich, der zuerst mathematisch demonstrirt hat, daß die Annah-
me erfüllter Atompunkte eine für die strengste Wissenschaft der Mechanik
unbrauchbare Hypothese sei: ein Satz, der jetzt unter mathematisch ge-
schulten Naturforschern als kanonisch gilt. Für die Praxis der Forschung
ist er gleichgültig.44 (KSB 6/KGB III/l, Nr. 460, S. 442, Z. 13-20, vgl. als
Resultat von N.s damaliger Beschäftigung mit Boscovich NL 1873, KSA 7, 26[12],
575-579; zu dessen Interpretation z. B. Whitlock 1997; Ansell-Pearson 2000 u.
Gori 2007, 184-192). Die antimaterialistische Schlussfolgerung aus Boscovich,
wonach es keine Materie gebe, steht in den Notizen von 1884 im Zusammen-
hang eines allgemeinen ontologischen Desillusionierungsinteresses, das das
Bild der Wirklichkeit um metaphysische Irrtümer, aber auch um common sense-
Täuschungen erleichtern will: „kein Stoff (Boscovich) / kein Wille / kein Ding an
sich / kein Zweck“ (NL 1884, KSA 11, 26[302], 231, vgl. etwas ausführlicher NL
1884, KSA 11, 26[410], 260f.).
NL 1885, KSA 11, 26[432], 266 enthält eine naturphilosophische Positions-
bestimmung, die etablierten normalsprachlichen und wissenschaftlichen Re-
 
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