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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0168
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148 Jenseits von Gut und Böse

Wesentliche derselben hinstellte. Materie ist dann dieses Wesentliche in Betreff
seiner Ausgedehntheit im Raum“ (KGB III 7/2, Nr. 37, S. 500).
26, 22-30 Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Ko-
pernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Wäh-
rend nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass
die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von
der Erde „feststand“, abschwören, dem Glauben an den „Stoff“, an die „Mate-
rie“, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: es war der grösste Triumph über
die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist] Vgl. NL 1881, KSA 9,15 [21],
643 („Die beiden größten Gegner des Augenscheins sind Copernicus und Bo-
scovich, beides Polen und beides Geistliche — letzterer erst hat den Stoff-Aber-
glauben vernichtet, mit der Lehre vom mathematischen Charakter des
Atoms“), zu N.s Basler Boscovich-Lektüren und seinem späteren Bezug darauf
oben NK ÜK JGB 12, ferner Brusotti 1997, 361 f., Fn. 102 u. Müller-Lauter 1999a,
196, Fn. 43; zu 26, 22-30 im Detail Gori 2007, 74-82.
Der in Ragusa geborene und in Mailand verstorbene Boscovich ist mitnich-
ten Pole - auch wenn er 1772 ein Journal d’un voyage de Constantinople en
Pologne veröffentlicht hat. N.s Beschäftigung mit Boscovich könnte ursprüng-
lich angeregt worden sein durch Bemerkungen in Friedrich Albert Langes Ge-
schichte des Materialismus zu Boscovichs Idee von ausdehnungslosen, einfa-
chen Atomen (Lange 1876-1877, 1, 192, vgl. Abel 1998, 87). Lange verwies in
der entsprechenden Anmerkung (Lange 1876-1877, 2, 296) allerdings nicht auf
Boscovichs Originalwerke, sondern auf Gustav Theodor Fechners Atomenlehre
(Fechner 1864, 229 ff.). Fechner hatte ebenfalls angenommen, ,,[d]ass unsere
einfachen Wesen keine Ausdehnung und Gestalt haben“ (ebd., 153), und be-
glaubigend dazu längere Zitate von Boscovich herangezogen (ebd., 153 f.). Die
von ihm und Boscovich geteilte Auffassung fand Fechner bei den namhaftesten
Gelehrten - unter ihnen auch Hermann von Helmholtz - verbreitet (ebd., 157).
Später ging er dann noch einmal ausführlich auf Boscovich ein: „ich bin er-
staunt, [...] die wesentlichsten Grundbestimmungen der einfachen Atomistik,
wie sie von mir in dieser Schrift ohne vorherige Kenntniss seiner Ansicht vorge-
tragen wurden, schon mit so grosser Klarheit, Entschiedenheit und Vollstän-
digkeit ausgesprochen zu finden“ (ebd., 229; nach längeren Erörterungen
bringt Fechner in einem „Zusatzcapitel“ auch noch seitenlange wörtliche Aus-
züge aus Boscovichs lateinischem Hauptwerk - ebd., 239-244). Nun nannte
N. Fechner zwar nirgends, aber dennoch erscheint eine Bekanntschaft N.s mit
diesem Text auch deshalb nicht unwahrscheinlich, weil Fechner seinen imma-
terialistischen Atomismus explizit gegen die Anhänger des „Augenscheins“
verteidigte und für die notwendige Abkehr vom Augenschein ebenfalls auf Ko-
pernikus anspielte: „Es ist ja zuzugestehen, dass der Atomismus nichts ist, was
 
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