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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0169
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Stellenkommentar JGB 12, KSA 5, S. 26 149

unmittelbar in die Erfahrung fällt. Ja Philosophen und Physiker scheinen in
Bezug darauf geradezu die Rolle zu wechseln, indem die Physiker, die sich
doch sonst so gern an den Augenschein halten, hier etwas wider allen Augen-
schein annehmen, die Philosophen dagegen den Augenschein, an dem sie
sonst nicht hängen, hartnäckig vertheidigen und wohl gar, was Verwunderung
erregen könnte, als Argument gegen den Physiker benutzen. Aber unstreitig
würden die Physiker, eben wegen jener Tendenz, im Augenscheinlichen und
Handgreiflichen zu verharren, nicht ohne tiefer liegende Gründe widerspre-
chen; dass sie es aber auch sonst mit Erfolg thun können, beweist das Koperni-
canische Weltsystem [...]. Inzwischen besteht jene Tendenz immerhin und die
Abneigung vieler Physiker, ohne geradezu zwingende Motive über den Augen-
schein hinauszugehen [...], ist gross genug“ (Fechner 1864, 8). En passant ver-
warf übrigens N.s antimaterialistischer Gewährsmann Afrikan Spir die Bosco-
vich zugeschriebene Theorie, „nach welcher die ursprünglichen Elemente der
Materie gar nicht ausgedehnte Kraftcentra sind“ (Spir 1877, 2, 112), während
der andere in NK 26, 17-22 genannte Autor, Schmitz-Dumont, notierte, dass
Boscovich „mit grosser logischer Schärfe ausführte, dass die räumliche Aus-
dehnung der Körperelemente gar nicht nothwendig sei um die Wirkungen ihrer
Gruppen, der Körper, verständlich zu machen“ (Schmitz-Dumont 1881, 80. N.s
Unterstreichungen). Vgl. auch Zöllner 1878, 1, 60-65; zum Atomismus allge-
mein Liebmann 1880, 306-312, der schloss: „das Atom ist bloße Rechenmarke
der Theorie, zeitweilige Fiction, Interimsbegriff; aber vorläufig ein recht
brauchbarer Interimsbegriff“ (ebd., 312). Vgl. NK 31, 12-19.
26, 30-27, 9 Man muss aber noch weiter gehn und auch dem „atomistischen
Bedürfnisse“, das immer noch ein gefährliches Nachleben führt, auf Gebieten, wo
es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren „metaphysischen Bedürfnisse“ —
den Krieg erklären, einen schonungslosen Krieg aufs Messer: — man muss zu-
nächst auch jener anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus ma-
chen, welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der See-
len-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben zu bezeichnen,
der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade,
als ein Atomon nimmt: diesen Glauben soll man aus der Wissenschaft hinaus-
schaffen!] Wenn hier der „Seelen-Atomistik“ in Analogie zur „materialistischen
Atomistik“ die Geschäftsgrundlage entzogen werden soll, dann lebt diese Ar-
gumentation zunächst von der Suggestion, durch Forscher wie Boscovich sei
nicht nur dem materialistischen, sondern überhaupt jedem physikalischen
Atomismus der Lebensnerv durchtrennt worden. Diese Suggestion, von der die
Abwehr des psychologischen Atomismus zunächst zehrt, ist falsch, selbst
dann, wenn man mit JGB 12 und Fechner annimmt, die Widerlegung des mate-
rialistischen Atomismus sei nicht nur gelungen, sondern von allen ernsthaften
 
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