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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0170
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150 Jenseits von Gut und Böse

Forschern anerkannt: Boscovich und Fechner behielten die atomistische Opti-
on ja bei, nur dematerialisierten sie die elementaren Wirklichkeitsbestandtei-
le - kurzum, ihr Atomismus ist immaterialistisch, bleibt aber ein Atomismus
pur sang. Gegen den Atomismus an sich hat Boscovich nichts bewiesen, nur
gegen seine spezifisch materialistische Ausprägung, so dass daraus auch kein
Beweismittel gegen die „Seelen-Atomistik“ zu gewinnen ist.
Schopenhauer hat im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung das
ganze 17. Kapitel „lieber das metaphysische Bedürfniß des Menschen“ gehan-
delt (Schopenhauer 1873-1874, 3, 175-209) und diesen Menschen als „animal
metaphysicum“ bestimmt (ebd., 176). JGB 12 erweckt den Anschein, der Begriff
der „Seelen-Atomistik“ sei N.s eigene Begriffsschöpfung, was jedoch
nicht zutrifft. Er dient, in durchaus denunziatorischer Absicht, schon vor N.
im philosophiehistorischen Gebrauch zur Charakterisierung eines bestimmten
Aspekts des antiken Atomismus - so bei Ferdinand von Eckstein, der schilder-
te, wie die französischen Materialisten Demokrit gehuldigt hätten, „aber ver-
warfen seine Askesis und seinen Aberglauben. Sie adoptirten gleichfalls seine
Seelen-Atomistik“ (Eckstein 1862, 9). Aufschlussreicher ist jedoch der Begriffs-
gebrauch, den der (wegen allzu großen Vernunftvertrauens von der Amtskirche
verurteilte) katholische Münchner Priester, Philosophieprofessor und erklärte
Materialismus-Gegner Jakob Frohschammer in seiner 1879 erschienenen Mono-
graphie Monaden und Weltphantasie von der „Seelen-Atomistik“ machte. Denn
Frohschammer ging in seiner Monographie von einem zu JGB 12 analogen Ge-
genwartsbefund aus, dass es nämlich in „neuester Zeit [...] äusser Hegels und
Schopenhauers Anhängern nur wenige Philosophen“ gebe, „welche nicht ir-
gend einer Art Monadologie huldigen“ (Frohschammer 1879, 88). Gegen den
Monadologismus von Immanuel Hermann von Fichte wendet sich Frohscham-
mer mit einer Breitseite gegen die „blossen Individualwesen“ und „Seelen-Ato-
men“ (ebd., 141): Fichte könne mit seiner „Seelen-Atomistik ohne Anerken-
nung eines einheitlichen Grades der Gesammtheit der Individuen“ zu einer zu-
friedenstellenden Lösung „der wichtigsten Probleme in Natur und Menschheit“
nicht gelangen (ebd., 142). Nun lässt sich bei N. zwar keine direkte Kenntnis
von Frohschammers Buch nachweisen (immerhin nannte er Frohschammer NL
1873/74, KSA 7, 30[20], 740, 1-4 mit zynischem Zungenschlag als einen der
„fünf Denker [...], auf welche, als auf den Inbegriff deutscher Philosophie der
Gegenwart, kürzlich [...] aufmerksam gemacht wurde“), aber bedeutsam ist
doch, dass das Thema und auch die Begrifflichkeit in einen zeitgenössischen
polemischen Kontext hineingehören: Die antiatomistische Wendung mochte
für Zeitgenossen eine philosophisch-reaktionäre Schlagseite gehabt haben. Al-
fred Espinas, dessen Buch über Die thierischen Gesellschaften N. eifrig studiert
hat, hatte gleichfalls darüber nachgedacht, ob „der Name Individuum [...] die
 
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