Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0172
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
152 Jenseits von Gut und Böse

sen: / das Subjekt als Vielheit / [...] / die einzige Kraft, die es giebt, ist
gleicher Art, wie die des Willens, ein Commandiren an andere Subjekte, welche
sich daraufhin verändern. / die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit
des Subjekts, »sterbliche Seele“4 (NL 1885, KSA 11, 40[42], 650, 7-15 u. 21-25,
hier korrigiert nach KGW IX 4, W I 7, 52, 2-14 u. 28-38). Eine Folie für diesen
pluralistischen Seelenbegriff und für die dabei wirkmächtige Kampf-Metapher
ist Wilhelm Roux’ Der Kampf der Theile im Organismus von 1881, den N. inten-
siv rezipiert hat (vgl. z. B. Müller-Lauter 1999a, 97-140 u. Heit 2013b, 185 f.).
Die „Seele als Subjekts-Vielheit44 von JGB 12 stellt die Übertragung von Roux’
pluralistischem Verständnis des Körpers auf die Seele dar. Die beiden zitierten
Nachlassnotate von 1884/85, in denen beispielsweise noch physiologisch wie
bei Roux von „Zellen44 die Rede ist (Roux 1881, 88-96: „Der Kampf der Zellen44),
bemühen den Seelenbegriff erst bei der Sterblichkeit, sprechen sonst aber von
„Mensch44 und „Subjekt44. Zeit gleich fordern mehrere Aufzeichnungen, dass wir
den Menschen „am Leitfaden des Leibes44 verstehen sollten (z. B. NL 1884, KSA
11, 26[374], 249; NL 1884, KSA 11, 26[432], 266; NL 1884, KSA 11, 27[27], 282; NL
1885, KSA 11, 36[35], 565, entspricht KGW IX 4, W I 4, 22; NL 1885, KSA 11,
37[4], 576-579, entspricht KGW IX 4, W I 6, 21,23,25,27, u. NL 1885, KSA 12,
2[70], 92, entspricht KGW IX 5, W I 8, 145). In diesen Vorstellungen wirken im
Übrigen Überlegungen von Friedrich Albert Lange und Arthur Schopenhauer
nach (zu letzterem Constäncio 2013b). Bemerkenswert ist nicht nur, dass N.
darauf verzichtete, die Formel „Leitfaden des Leibes44 aus seiner Denkwerkstatt
irgendwo in einem seiner Werke zu platzieren, sondern dass er gegen die kor-
poralistisch-materialistischen Tendenzen der Nachlass-Texte in JGB 12 den Be-
griff der Seele, der beispielsweise bei Roux nur noch marginal erschien, wieder
in den Vordergrund rückte und die Vielheit nun nicht dem „Menschen44, son-
dern gerade der „Seele44 prädizierte. Diese Heimholung der Seele ist konse-
quenter Ausdruck des philosophischen Machtanspruchs, den das Erste Haupt-
stück von JGB trotz seiner Kritik an den „Vorurtheilen der Philosophen44 auf-
recht erhält: Die bisherige Philosophie hatte entweder gleichsam unbedarft
von der Seele als einer einfachen, vom Körper prinzipiell getrennten Entität
gesprochen oder sie aber krude materialistisch überhaupt geleugnet. JGB 12
restituiert hingegen die begriffsprägende und gesetzgebende Kraft der Philoso-
phie, indem nun gegen das naturwissenschaftliche Bestreben, die Seele als
Gespenst zum Verschwinden zu bringen, ein neuer Seelenbegriff empfohlen
wird. Die in Anführungszeichen gesetzten Wendungen in 27, 16 f. rekurrieren
übrigens auch nicht auf andere wissenschaftliche Autoritäten, sind keine Zita-
te, sondern Hervorhebungen eigener Begriffsprägungsarbeit des ,,neue[n]
Psychologien]44 (27, 18 f.).
Die Vorstellung einer sterblichen statt einer unsterblichen Seele ist N. auch
bei seinen religionswissenschaftlichen Lektüren begegnet, und zwar nament-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften