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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0178
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158 Jenseits von Gut und Böse

ganz untauglich, er ist weder so fest noch so klar, wie man ihn sich gedacht
hat, er ist sehr mannichfacher Grade und eines sehr mannichfachen Verhaltens
fähig, und da er in seiner willkürlichen Form schliesslich auf Lust, d. h. ein
Werthgefühl zurückkommt, so muss es sich in der Moral um diese Werthgefüh-
le handeln, nicht um den Selbsterhaltungstrieb als solchen.“ (Ebd., 130. Letzte
drei Zeilen mit dreifacher Anstreichung, vom Buchbinder abgeschnittene, unle-
serliche Marginalie N.s; alle Unterstreichungen von N.s Hand.) Auch nach der
Publikation von JGB wird N. übrigens bei seinen Lektüren noch Bestätigungen
für die von ihm gestaltete Ablehnung eines zum universellen Moralprinzip hy-
postasierten Selbsterhaltungstriebes finden (vgl. z. B. Herrmann 1887, 217). Zu
JGB 13 und Spinoza siehe auch Große Wiesmann 2015, 95-107.
14.
28, 5-26 Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch
nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und
nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die
Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich
als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein
und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem
Grundgeschmack bezaubernd, überredend, überzeugend, — es folgt ja in-
stinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volkstümlichen Sensualismus. Was ist
klar, was „erklärt“? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, — bis so weit muss
man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben gegen die Sin-
nenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vor-
nehme Denkweise war, — vielleicht unter Menschen, die sich sogar stärkerer
und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber
welche einen höheren Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu
bleiben: und dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den
bunten Sinnen-Wirbel — den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte — warfen. Es war eine
andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und Welt-Auslegung nach der
Manier des Plato] Vgl. NK 26, 5-15 u. NK 96, 16 f. Die Entgegensetzung von
„Sensualismus“ als plebejischer Philosophie und Platonismus als vornehmer
Philosophie, wird - wie Riccardi 2007, 400 f. nachgewiesen hat - in JGB 14 auf
der Folie der einleitenden Erörterungen von Gustav Teichmüllers Wirklicher
und scheinbarer Welt markiert. Teichmüller nahm für eine platonisierende Er-
kenntnistheorie Partei, wenn er geltend machte, „dass wirklich in der Natur
unserer Vernunft der Begriff der Sache irgendwie schon unbewusst vorhan-
den sein muss [...]. Es ist darum sehr bewunderungswürdig, dass schon Plato
das Erkennen als Wiedererinnern auffasste. [...] Denn wenn das Denken nicht
 
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