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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0179
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Stellenkommentar JGB 14, KSA 5, S. 28 159

gewissermassen organisirt und von vornherein nach einem inneren Plan ge-
staltet wäre, so würden wir unmöglich die Ziele oder die Wahrheit finden kön-
nen. [...] Es muss daher in dem Denken selbst liegen, dass wir zu ganz be-
stimmten Wegen der Erkenntniss genöthigt werden“ (Teichmüller 1882,14). Als
die verachtungswürdige und volkstümliche „entgegengesetzte Lehrmeinung“
wird der Sensualismus ins Feld geführt: „Die Annahmen, welche sich bei den
Menschen als Antworten auf wissenschaftliche Fragen in Curs finden, sind
zwar alle mehr oder weniger verständig; die einfältigste Annahme in Bezug auf
unsere Frage hier besteht aber darin, dass die Vernunft von Haus leer und
inhaltslos sei und dass keine Idee uns unbewusst beim Denken leite, sondern
dass erst die Ablesung des Gemeinsamen in den Reihen von anschaulichen
einzelnen Bildern uns den Begriff und die Idee und die Vernunft erschaffe, so
dass wir selber durch unsere Sinneswahrnehmungen und Denkoperationen die
Schöpfer der Vernunft wären. Dies ist die Annahme der Sensualisten und
Positivisten, welche nach Cicero’s Ausdruck die Plebejer unter den Philo-
sophen sind. Sie meinen, man brauche doch nur hinzublicken auf die Vielheit
der gegebenen Beispiele, um das Allgemeine als den Begriff davon abzuhe-
ben. Um z. B. den Begriff der Gleichheit und Ungleichheit zu finden, brauche
man nur hinzublicken etwa auf ein Pferd und ein anderes Pferd und dann auf
ein Pferd und einen Hund. Sofort wisse man, was gleich und ungleich sei. Sie
merken eben gar nicht, weil sie überhaupt vom Denken nicht viel halten, dass
in den Beispielen das angebliche Allgemeine, die Gleichheit, gar nicht vor-
kommt und desshalb davon auch gar nicht abgehoben oder abstrahirt wer-
den kann“ (Teichmüller 1882, 15).
JGB 14 bleibt mit (Cicero und) Teichmüller bei der abfälligen sozialen Cha-
rakterisierung des Sensualismus, stellt aber im Unterschied zu Teichmüller
und vor dem Hintergrund einer bei N. häufiger vorkommenden Vorstellung
vom aristokratischen Charakter Platons und seiner Philosophie die „platoni-
sche Denkweise“ explizit als vornehm heraus, und zwar gerade deshalb, weil
sich darin offensichtlich ein starker Machtwille artikuliert, ein Wille nicht nur
„im Widerstreben gegen die Sinnenfälligkeit“, sondern in der „Welt-Überwäl-
tigung und Welt-Auslegung“. Während Teichmüllers Überlegungen um die
Frage nach der für eine vollständige Wirklichkeitserkenntnis adäquaten Me-
thode kreisten und damit ganz im Feld der Erkenntnistheorie blieben, zeigt
sich JGB 14 an dieser Frage letztlich gar nicht interessiert. Dagegen wird mit
der konstruktivistisch anmutenden Eingangssequenz gleich stipuliert, dass
selbst der physikalische Zugang die Welt nicht erkläre, sondern sich nur zu-
rechtlege. Ganz im Unterschied zur aprioristischen Präferenz von Teichmüller
weist JGB 14 keinen Ausweg, wie denn eine angemessene „Welt-Erklärung“
aussehen und damit ein erkennender Wirklichkeitszugang möglich sein könn-
 
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