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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0180
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160 Jenseits von Gut und Böse

te. Vielmehr erscheinen die unterschiedlichen Welt-Zurechtlegungen nun als
Ausdruck unterschiedlicher Lebenshaltungen: Der Sensualist ist volkstümlich
nicht nur, weil er sich dem Glauben der großen Masse anschließt, die auf die
Sinne vertraut, sondern auch, weil er sich den Sinneseindrücken unterwirft,
sich ihnen untertan macht, wie das Volk Untertan ist. Der Platoniker hingegen
opponiert gegen das ihm von den Sinnen und von der großen Masse Aufgenö-
tigte und erweist sich in diesem Willen zur Selbstmacht gegen das Augen-
scheinliche als vornehm, als souveränitätswillig. FW 372 geht sogar so weit,
Platons Idealismus von sonstigen Formen des Idealismus, die „Etwas wie
Krankheit“ seien, grundsätzlich zu unterscheiden, und zwar als Form des Wi-
derstands gegen die Sinnlichkeit, gegen das Bestimmtwerden durch die Sinne:
„im Falle Plato’s“ sei Idealismus „die Vorsicht einer überreichen und gefährli-
chen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen“ (KSA 3, 624, 22-
24). „Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealis-
mus nöthig zu haben? Und wir fürchten die Sinne nicht, weil-“ (KSA
3, 624, 25-28, vgl. auch NL 1885/86, KSA 12, 2[104], 112, entspricht KGW IX 5,
W I 8, 117, dazu auch Witzler 2001, 65 u. Steinmann 2000, 95).
28, 24 den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte] Die Kritik an der fehlenden Vernunft-
und Gesetzes-Orientierung der breiten Volksmasse bringt im 3. Buch von Pla-
tons Nomoi (689 a-b) der dort sprechende „Athener“ vor. In der von N. ge-
brauchten Übersetzung von Franz Susemihl heißt es an dieser Stelle: „Wenn
also die Seele der Erkenntniß oder (richtigen) Vorstellungen oder der Vernunft,
denen von Natur die Herrschaft gebührt, sich widersetzt, so nenne ich das Un-
verstand; (ich nenne es Unverstand) im Staate, wenn die große Menge den
Obrigkeiten und Gesetzen nicht gehorcht“ (Platon 1862,1184). Geht JGB 14 vom
Sensualismus als einer Lebenshaltung, die für Teichmüller (siehe NK 28, 5-26)
nur eine spezifisch erkenntnistheoretische Position war, zu Platons Idealismus
über und zu dessen ,,andre[r] Art Genuss“ (28, 25), so macht N. sich das
weite Bedeutungsfeld von Sinn/Sinnlichkeit zunutze: Dem Sensualisten wird
nicht nur zugeschrieben, dass er Erkenntnis allein über Sinneswahrnehmung
gewinnen wolle, sondern dass er vornehmlich an sinnlichem Genuss interes-
siert sei, d. h. an den Lüsten des Magens und des Unterleibs. Auf diese hedonis-
tische Position zielt Platon in Politeia 505b ab, wenn er Sokrates im Gespräch
mit Adeimantos in der von N. benutzten Übersetzung von Wilhelm Wiegand
sagen lässt: „Ferner mußt du auch das bereits wissen, daß es in bezug auf das
eigentliche wesenhafte Gute bis jetzt zweierlei Ansichten gibt: dem großen ro-
hen Haufen ist Sinnenlust das eigentliche Gute, den Gebildeteren verständige
Einsicht.“ (Platon 1856, 310. Im Original heißt es: „öAAd pi)v Kai toöe yc oiaöa,
ÖTi toü; pcv noAAoü; fjöovp öokei civai to äyaöov, toi«; öe KopipoTspou;
cppovriau;.“ Der Terminus für die „Sinnenlust“ ist also pöovp, was sprachlich
 
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