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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0190
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170 Jenseits von Gut und Böse

scheinbare Welt kommt ohne den Ausdruck „unmittelbares Erkennen“ aus;
dort wird in Abgrenzung von Kant der Begriff der Intuition erörtert: „Suchen
wir also den gemeinsamen Charakter aller Intuition, so müssen wir als Gegen-
satz dazu das vermittelte Erkennen heranziehen und auf beides dann zugleich
den Blick heften. Das Vermittelte ist derart, dass es nur nach und nach sich aus
Elementaranschauungen zusammenschliesst [...]. Vermittelt im intellectuellen
Gebiete ist die Erkenntniss, die wie bei den Beweisen Euclid’s sich noch nicht
sofort einstellt, wenn wir die Bedingungen des Lehrsatzes gehört haben, son-
dern erst aus den fremd hinzugenommenen Lemmaten und Constructionen
folgt [...]. / Wir dürfen aber den Begriff des Intuitiven nur in erster Linie auf
das schlechthin Einfache beziehen und können dann noch der Erfahrung ge-
mäss einen gewissen Spielraum für eine erworbene Intuitionskraft frei lassen,
weil die Grösse des Bewusstseins darüber entscheidet, was in einem Act er-
kannt werde und was nicht mehr hineinfalle. So sind ja für den Säugling aller-
dings die sämmtlichen Gegenstände und Personen der Umgebung noch un-
fassbar und seine Sinnlichkeit ist, wie die Erfahrung zeigt, nur gleichsam
punktweis mit einzelnen Eindrücken ausgefüllt. Wenn er aber erst durch Wie-
derholung mehr Einsicht gewonnen hat, so fallen ihm auch schon die ganzen
Bilder der Personen und Dinge in Eine Anschauung, wie bei den Erwachsenen.
Ebenso ist es bei der intellectuellen Intuition; denn für den geübteren Denker
sind nicht bloss die Kategorien einfache Erkenntnisselemente, sondern auch
der einfache Syllogismus und die Definition vieler Begriffe ergiebt sich in Einer
Anschauung.“ (Teichmüller 1882, 35, vgl. NK 230, 6-10; Loukidelis 2005c u.
Teichmüller 2014, 1, 383 f.) Teichmüller vertrat also genau jenen in JGB 16 pro-
blematisierten Intuitionismus, fasste aber - anders als in 30, 22 f. - den Begriff
der Intuition so weit, dass alle möglichen komplexen Erkenntnisakte ebenfalls
als „intuitiv“ gelten konnten (vgl. NK 30,10-14). Mit dem Begriff der „unmittel-
baren Gewissheit“ in 29, 19, den Teichmüller 1882 nicht verwendet, blockiert
JGB 16 von vornherein diesen Ausweg, an so etwas wie einer mittelbaren Intui-
tion festzuhalten und darauf „Gewissheit“ zu gründen.
Während N. die „unmittelbare Gewissheit“ nur in JGB 16, JGB 17 u. JGB 34
(KSA 5, 53, 4 f.) bemüht hat, war sie in der damaligen Philosophie eine gängige
Münze. So dekretierte beispielsweise Schopenhauer, ,,[n]ur die Grundsätze der
Logik und die aus der Anschauung a priori geschöpften der Mathematik, end-
lich auch das Gesetz der Kausalität“ hätten „unmittelbare Gewißheit“ (Scho-
penhauer 1873-1874, 3,132, vgl. aber auch NK 29,19-21), während N.s gelegent-
licher philosophiehistorischer Gewährsmann Kuno Fischer den Ausdruck frei-
händig auf Descartes’ cogüo-Argument anwandte und etwa zur Antwort auf
die zweiten Einwürfe zu den Meditationes notierte, Descartes habe dort zeigen
können, „daß sein Princip der Gewißheit, der Satz cogito ergo sum, ebenfalls
 
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