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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0212
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192 Jenseits von Gut und Böse

der Mitte des Textes die Erklärung für die begriffliche Verwandtschaft keines-
wegs in der Partizipation an allgemeinen Ideen gesucht wird, sondern vielmehr
in Zwängen der Sprache und der mit dieser Sprache verbundenen Kultur, also
in kontingenten Faktoren (inwiefern hier Friedrich Albert Lange radikalisiert
wird, erörtert Stack 1983, 188-190). Mit dieser Perspektivierung versucht N.s
Sprecherinstanz, sich selbst außerhalb des angeblichen indoeuropäischen Phi-
losophen-Begriffskonsenses zu verorten.
Lampert 2001, 50 f. argumentiert, JGB 20 habe seinen Platz zwischen zwei
Abschnitten gefunden, die das Thema der Willensfreiheit behandeln, weil die-
ses Thema „the question of the free mind“ beinhalte und Philosophie als
„highest aspiration to freedom“ verstanden werden müsse (dagegen kritisch
Tongeren 2010, 622 f.). JGB 20 zeigt freilich, dass Philosophie bislang nicht hat
frei sein können.
34, 5-22 Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts
Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einan-
der emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschich-
te des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme ange-
hören als die sämmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils: das verräth sich
zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses
Grundschema von möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter ei-
nem unsichtbaren Banne laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe
Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen
oder systematischen Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas
treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Syste-
matik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That viel weniger ein
Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in
einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einst-
mals herausgewachsen sind] Dieser Passus trägt die entscheidenden Stichworte
aus Platons Konzept der öcvapvqou;, der Wiedererinnerung zusammen: Im Me-
non wird an einem Sklaven durch geschicktes Fragen exemplifiziert, dass ein
Mensch über ein nicht aus irdischer Erfahrung gewonnenes, ihm aber bis da-
hin verborgenes inneres Wissen über geometrische Figuren verfügt, so dass
Lernen und Forschen mit Anamnesis identifiziert werden können (Platon: Me-
non 81d 4 f.). Dabei erscheint die Seele gleichfalls als Träger dieses Wissens
(Menon 86b 1). Im Phaidon (100c 5 f.) sind es dann ausdrücklich die vorgeburt-
lich und in der philosophischen Reflexion anamnetisch wieder geschauten Ide-
en, durch die die Wirklichkeit ist, was sie ist.
So platonisierend sich der Eingang von JGB 20 auch ausnimmt, so deutlich
drängt sich doch ein resignatives Moment in den Vordergrund - die Klage,
dass die Philosophen die ihnen auferlegten Schranken bei aller Anstrengung
 
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