Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0218
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
198 Jenseits von Gut und Böse

lieh eine causa sui und als solche stets in seinem Wirken frei“ (Witte 1882,
228).
In Eduard von Hartmanns Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins, die
N. studiert hat, wird Schopenhauer selbst eines Rückfalls in eine Denkweise
bezichtigt, die dessen eigene Systemvoraussetzungen unterlaufe: „So verstan-
den ist also das Individuum ([...]) durch eine Action seiner selbst gesetzt, wel-
che in jeder Hinsicht als ,freie That‘ zu bezeichnen ist ([...]). Hiermit aber ist
Schopenhauers transcendentale Freiheit bei jenem Begriff der ,causa sui‘ ange-
langt, welchen er Spinoza gegenüber mit Recht als Analogon des sich an sei-
nem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehenden Münchhausen verspottet; nur
ist der Begriff der causa sui auf ein einzelnes Individuum angewandt noch
weit /478/ unerträglicher als auf das Absolute bezogen. Das Individuum soll
sich nach Schopenhauer durch seine freie That seine Existenz und sein Wesen
selbst verleihen; d. h. es soll ein Wunder thun, eine Handlung vollbringen,
noch ehe es existirt und jedenfalls bevor seine Existenz irgendwelche Be-
stimmtheit (Essenz, Charakter) besitzt. Dieses sich-selbst-Setzen soll ferner
eine freie That, aber doch kein Operari sein, es soll eine Handlung sein,
welche doch ewig ist, eine Function, welche doch jenseits und äusser aller
Zeit liegt. Diese Handlung soll das Individuum als solches vollbringen,
denn auf ihr soll ja sein individuelles Verantwortlichkeitsgefühl beruhen, und
doch soll es sie vollbringen in einer Sphäre, wo eine Individuation des All-
Einen in Ermangelung von Individuationsprincipien noch gar nicht möglich
ist, und vor Beginn seiner Individualexistenz.“ (Hartmann 1879, 478 f. Mehrere
Randstriche von N.s Hand, seine Unterstreichungen. Auf das „All-Eine“ statt
auf „Individuen“ bezogen wollte Hartmann, ebd., 482 freilich am Begriff der
causa sui festhalten, während er den „Begriff einer indeterministischen Frei-
heit in Bezug auf die endlichen Individuen“ zurückwies, nicht aber - von N.
unterstrichen - denjenigen der „Verantwortlichkeit“ - ebd., 483). Die Wendung
gegen die Kontamination von causa sui und Willensfreiheit in JGB 21 hat in der
zeitgenössischen Literatur eine Reihe von weiteren Vorgängern, beispielsweise
Harald Höffding, bei dem es heißt: „Deshalb ist die Freiheit des Willens voll-
ständig illusorisch, wenn man darunter ein Vermögen versteht, eine Handlung
absolut zu beginnen - Ursache zu sein, ohne Wirkung zu sein. Eine Ursache
ohne Wirkung, die also ihre eigene Ursache ist (causa sui), kann nur ein abso-
lutes Wesen sein, das über alle Bedingungen erhaben, von der gesetzmässigen
Ordnung der Dinge losgerissen ist. Allein ein solches Wesen ist für uns unbe-
greiflich. Dies haben scharfsinnige Vertheidiger der absoluten Freiheit des Wil-
lens auch eingesehen; für sie ist diese ein Postulat, für das man keinen Grund
finden kann.“ (Höffding 1880, 85). Schon in den mittleren Werken N.s standen
die landläufigen Vorstellungen von Willensfreiheit oft zur Disposition, vgl. z. B.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften