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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0219
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Stellenkommentar JGB 21, KSA 5, S. 35 199

MA II WS 9-12, KSA 2, 545-548, während er bei Georg Christoph Lichtenberg
die Überlegung erwägenswert fand, dass unsere Vorstellungen von einem frei-
en Willen und einer lückenlosen Kausalität unvereinbar seien: „Unsere Begrif-
fe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht
frei sein könnte, wenn sie richtig wären“ (Lichtenberg 1867,1, 70, dokumentiert
bei Stingelin 1996,173. N.s Unterstreichung, doppelter Randstrich). Zu Willens-
freiheit und Notwendigkeit vgl. NK 148, 14 f.
35, 20-22 mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich selbst aus
dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn] Vgl. NK 103, 17 f.
Auch Schopenhauer bezieht sich bei seiner Kritik an der causa sui auf die mit
dem ,Lügenbaron‘ Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen
(1720-1797) assoziierte Geschichte, dieser habe sein Pferd und sich selbst am
eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen (vgl. NK 35, 10-20). Die berühmteste
literarische Verarbeitung von Münchhausens Lügengeschichten stammt von
Gottfried August Bürger (Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande. Feldzüge
und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, 1786 u. 1788).
35, 22-36, 7 Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt die-
ses berühmten Begriffs „freier Wille“ und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte
ich ihn nunmehr, seine „Aufklärung“ noch um einen Schritt weiter zu treiben und
auch die Umkehrung jenes Unbegriffs „freier Wille“ aus seinem Kopfe zu strei-
chen: ich meine den „unfreien Willen“, der auf einen Missbrauch von Ursache
und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht, „Ursache“ und „Wirkung“ fehlerhaft
verdinglichen, wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im
Denken naturalisirt — ) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, wel-
che die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie „wirkt“; man soll sich der
„Ursache“, der „Wirkung“ eben nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst
als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung,
nicht der Erklärung. Im „An-sich“ giebt es nichts von „Causal-Verbänden“, von
„Nothwendigkeit“, von „psychologischer Unfreiheit“, da folgt nicht „die Wir-
kung auf die Ursache“, da regiert kein „Gesetz“.] Dieser Passus konterkariert die
eingangs von JGB 21 geweckte Erwartung, der hier Sprechende mache mit den
„Naturforschern“ gemeinsame Sache, indem er das menschliche Wollen und
Handeln naturalisiere und die Willensfreiheit zugunsten des Determinismus
preisgebe. JGB 21 will aber gar nicht die Frage beantworten, ob der Wille frei
oder unfrei sei, sondern diese Frage als solche zurückweisen, weil sie auf einer
falschen Verdinglichung von Begriffen beruhe (vgl. auch Brusotti 2012c, 113).
Ein Nachlass-Notat bringt dies auf die Formel: ,„Wille‘ — eine falsche Verdingli-
chung.“ (NL 1885/86, KSA 12,1[62], 26, 24, entspricht KGWIX 2, N VII2,144) So
lässt sich JGB 21 als Anwendung der in JGB 20 geltend gemachten Erkenntnis
 
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