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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0224
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204 Jenseits von Gut und Böse

deren erscheint (vgl. z. B. Post 1884, 364). Das kann wiederum implizieren,
dass die Strafbarkeit einer Handlung ganz von den jeweiligen Rahmenbedin-
gungen abhängt. Drei Mal am Rand markiert hat N. den Satz: „Es giebt daher
keine Handlung, welche an sich verbrecherisch wäre, und es giebt auch keine
Handlung, welche nicht unter Umständen strafbar werden könnte.“ (Post
1880-1881, 1, 224). Post schritt von da zu einem markanten Rechtsrelativismus
fort: „Es ist uns natürlich, es als selbstverständlich zu betrachten, dass Mord,
Raub, Diebstahl bei allen Völkerschaften der Erde als unsittlich und verbreche-
risch angesehen werden. Und doch ist dies durchaus nicht der Fall.“ (Ebd.,
225. Von N. mit doppeltem Randstrich versehen.) Einen nachsichtig-mitleidigen
Umgang mit Verbrechern fand N. eher in der von ihm gelesenen Belletristik als
in der kalten juristisch-kriminologischen Fachliteratur. Einschlägig wäre dafür
etwa Paul Bourgets Roman Un crime d’amour, auf den am Ende von JGB 21
angespielt wird, vgl. NK 36, 31-34.
36, 14 f. fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt]
Im Druckmanuskript stand ursprünglich: „ein Anzeichen von eigener
Schwächlichkeit des Willens“ (KSA 14, 350).
36, 31-34 Und in der That, der Fatalismus der Willensschwächen verschönert
sich erstaunlich, wenn er sich als „la religion de la souffrance humaine“ einzufüh-
ren versteht: es ist sein „guter Geschmack“.] Im Druckmanuskript hatte es
stattdessen ursprünglich geheißen: „Und nochmals gesagt: der Begriff der Ver-
antwortlichkeit4 reicht nicht in An-sich der Dinge - das kann überhaupt kein
Begriff“ (KSA 14, 350). N. nahm die Änderung unter dem unmittelbaren Ein-
druck der kulturellen Aktualität vor, über die er sich etwa im Journal des De-
bats unterrichtet haben mag: Die französische Wendung „la religion de la
souffrance humaine“, „Religion des menschlichen Leidens“ bezieht sich - wie
schon Campioni 1990, 531 f. nachgewiesen hat - auf die Schlussworte von Paul
Bourgets Roman Un crime d’amour: „Et Armand eprouva qu’une chose venait
de naitre en lui, avec laquelle il pourrait toujours trouver une raison de vivre
et d’agir: le respect, la piete, la religion de la souffrance humaine.“ (Bourget
o. J., 69. „Und Armand fühlte, dass etwas in ihm geboren wurde, dank dessen
er immer einen Grund zum Leben und Handeln finden würde: der Respekt, die
Frömmigkeit, die Religion des menschlichen Leidens.“). In der zeitgenössi-
schen Diskussion kehrte die Formel dann häufiger wieder, vgl. Vogüe 1886,
203 u. Campioni 2001, 210. Am 10. 04.1886 hat N. sich gegenüber Overbeck
explizit auf diese Debatte bezogen: „In der französ. Litteratur ist le grand suc-
ces dieses Jahres un crime d’amour von Paul Bourget: erstes Zusammentref-
fen der beiden geistigsten Strömungen des Pessimismus, des Schopenhaueri-
schen (mit der »Religion des Mitleidens4) und des Stendhal’sehen (mit messer-
 
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