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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0229
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Stellenkommentar JGB 23, KSA 5, S. 37 209

thetischen Vorbehalt gestellte Wirklichkeitskonzeption ist dann weit mehr als
eine Empfehlung, nämlich eine radikale Alternative, die den äußersten Gegen-
satz zum demokratisch-universalistischen Weltbild markiert. „Tyrannei“ wäre
für das in Aussicht Gestellte eine „schwächende und mildernde Metapher“
nicht nur, weil sie der ungeheuren Härte dieser Wirklichkeit nicht gerecht wür-
de, sondern auch, weil mit dem steten Kampf sich ausagierender Mächte nichts
und niemand sich zum Tyrannen würde aufschwingen können: diese Wirklich-
keit bliebe stets in Fluss. Die äußerste Zuspitzung der hypothetischen Alterna-
tivinterpretation - ironisch am Ende auch nur als Interpretation ausgewiesen -
besteht darin, der Welt abzusprechen, dass in ihr überhaupt „Gesetze“ herr-
schen. Gesetze zu leugnen war wiederum genau die Intention jenes Anarchis-
mus, der mit dem Schlachtruf „Ni dieu, ni maitre“ auf den Plan trat. Der Wille-
zur-Macht-Interpret erweist sich am Ende als der wahre Anarchist - was wie-
derum den Glauben des Lesers erschüttern mag, hier wolle N. seine unbedingt
für wahr zu haltende Wirklichkeitsversion als „Thatbestand“ oder „Text“ an-
preisen. Offensichtlich heben sich beide Alternativen im Anarchismus auf.
23.
Ein Entwurf dieses Abschnitts findet sich in KGW IX 5, W I 8, 167 f.
Die herausgehobene Stellung dieses Abschnitts am Ende des Ersten Haupt-
stücks hat viele Interpreten dazu bewogen, ihn als programmatisch für N.s
Denken insgesamt zu verstehen. Martin Heidegger verstand „Psychologie“ in
diesem Abschnitt zunächst als Anthropologie, nämlich „als philosophisches
Fragen nach dem Wesen des Menschen aus dem Hinblick auf die wesentlichen
Bezüge des Menschen“ (Heidegger 1961, 2, 61), weitete aber den Begriff dann
sofort aus, so dass diese Psychologie begriffen wird als „das Fragen nach dem
»Psychischen4, d. h. Lebendigen im Sinne jenes Lebens, das alles Werden im
Sinne des »Willens zur Macht4 bestimmt.“ Da N. alles Seiende als Willen zur
Macht interpretiere, werde seine „»Psychologie4 gleichbedeutend mit Metaphy-
sik schlechthin“ (ebd., vgl. auch Heidegger 1994, 236). Ohne diese brachiale
Wendung in Heideggers Deutung nachzuvollziehen, geben sich jüngere Inter-
preten nach wie vor von der zentralen Bedeutung dieses Abschnittes überzeugt
und zwar nicht allein für das Verständnis von N.s (vermeintlichem) Psycholo-
gie-Begriff, vielmehr seiner (vermeintlichen) Philosophie überhaupt: „Der 23.
Aphorismus stellt nicht nur den Abschluss- und Höhepunkt des ersten Haupt-
stückes dar, sondern komprimiert dessen Probleme, die in der abschließenden
These kulminieren, die Psychologie sei »wieder der Weg zu den Grundproble-
men4“ (Born 2012a, 200). Richardson 2012, 319 findet in der von JGB 23 ange-
kündigten neuen Psychologie das Basismodell für Wissenschaft bei N.» wäh-
 
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