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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0237
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Stellenkommentar JGB 24, KSA 5, S. 41 217

vor, dass sie eben nicht einfach, sondern gerade überkomplex sei, und dass
Wirklichkeitsrezeption nicht etwa eine Anreicherung und Ausschmückung ei-
ner einfachen Wirklichkeit darstelle - oder deren getreues Abbild -, vielmehr
deren simplifizierende Verfälschung. Eine wesentliche Pointe der Ausgangsex-
position von JGB 24 besteht nun auch darin, dass im Unterschied zum sokra-
tisch-platonischen Weg der Philosophie nicht Wissen, sondern „Unwissenheit“
für „Freiheit“, „Heiterkeit“ und Lebensgenuss sorgt. Diese Exposition ist die
Kontrafaktur der traditionellen philosophischen Erwartungen.
41, 6f. wenn man sich erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat] Die
ungewöhnlich anmutende Metapher ist die Rückübersetzung eines vor allem
in der Agronomie - namentlich im Obstanbau und bei der Rosenzucht - ge-
bräuchlichen Fachbegriffs, nämlich der Inokulation, der Einäugelung, worun-
ter man im wörtlichen Sinn das Einsetzen des Auges eines guten Triebes in die
Rinde eines wilden Stammes versteht. N. gebrauchte das Verb „inoculiren4“ im
Sinne von Einimpfung in MA I 224, KSA 2, 187, 26 u. 188, 33; während er in FW
78, KSA 3, 433, 31-33 davon handelte, inwiefern die Künstler den Menschen
Augen eingesetzt hätten (sowie in NL 1883, KSA 10, 8[21], 341, 8f. davon, das
sich ,,[u]nser Zeitalter [...] neue Augen eingesetzt“ habe, „um überall das Lei-
den zu sehen“). Im poetischen Sprachduktus wurde die Metapher auch ver-
wendet, etwa im Trauerspiel Agnes Bernauer des von N. gelegentlich genann-
ten Friedrich Hebbel: „wenn Ihr ihm nicht neue Augen einsetzen könnt, daß
ihm das Schöne häßlich vorkommt und das Häßliche schön, so richtet Ihr
nichts bei ihm aus“ (Hebbel 1855, 35). In 41, 6f. ist schließlich das reflexive
Moment auffällig: „man“ bekommt die Augen nicht von anderen eingesetzt,
sondern setzt sie sich selbst ein - was dem alten Rollenbild des aus sich selbst
schöpfenden, selbstdenkenden Philosophen zwar zunächst entspricht, aber
nicht abzuwehren vermag, dass dieser letztlich seine „Unwissenheit“ (41, 15)
nicht zu überwinden vermag. Vgl. NK 41, 22-25.
41,14-18 Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwis-
senheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf
dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum
Ungewissen, zum Unwahren!] Die spätestens mit dem Titel des ersten Bandes
von Michel Foucaults Histoire de la sexualite, nämlich: La volonte de savoir
(Foucault 1976) berühmt gewordene Wendung „Wille zum Wissen“ ist bei N.
nicht häufig anzutreffen (im Unterschied zum „Willen zur Wahrheit“, vgl. NK
15, 4). In seinen Werken begegnet sie einzig in GM II 4 wieder, und dort mit
konkreter Ergänzung, um welche Art von Wissen es geht, nämlich als „Wille
zum Wissen des Vergangnen“ (KSA 5, 297,17 f.). Anders zwei Nachlassaufzeich-
nungen, die JGB 24 direkte Reflexionsvorlagen liefern. Die erste erörtert die
 
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