Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0249
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 26, KSA 5, S. 43 229

len“ (sowohl in KSA 14, 350 als auch in 44, 28 f.), sondern sie bieten in ihrer
schonungslosen Sicht auf das ,Tier-Menschliche‘ vor allem eine Abkürzung im
Zugriff auf den Menschen, die durch ihre Drastik den Auserlesenen von allzu-
langer Beschäftigung mit den Durchschnittsgattungsgenossen und damit vom
angeblich unvermeidlichen Ekel entlastet. Petrons Satyricon, das in der Vorar-
beit noch als Beispiel genannt wird, entfällt in der Druckfassung; dafür be-
kommt Abbe Galiani breiteren Raum, und zwar emphatischer als „Genie“ (45,
1). Besonders eklatant ist die Differenz am Ende der jeweiligen Texte: Macht
die Vorarbeit für den ,,empörte[n] Cynismus“ eine höhere Abkunft und damit
eine höhere Wertigkeit geltend, so entlarvt JGB 26 diese Höherwertigkeit in
moralkritischer Absicht als falschen Schein und findet die empörten Cyniker
vielmehr ,,gewöhnlicher[..]“ (45, 22).
Die theoretisch-anthropologische Leitunterscheidung von JGB 26 ist dieje-
nige zwischen „Ausnahme“ und „Regel“: fünfmal wird allein die „Ausnahme“
samt Ableitungen bemüht (43, 32; 44, 2; 44, 12 [zweimal] u. 45, 6), viermal
immerhin die „Regel“ (43, 31; 44,1; 44,11 u. 44, 23). Gegen eine Genie-Konzep-
tion des Selbst, in der nur der Ausnahmecharakter dieses Selbst würdiger Ge-
genstand der Betrachtung ist, plädiert dieser Abschnitt für eine Betrachtung
des Normalfalls. Diese Orientierung an der „Regel“ entspricht dem Anspruch
der neuzeitlichen Wissenschaft, die eben auf das Allgemeine, das Reguläre und
nicht auf das Besondere und Außergewöhnliche abzielt. Die Pointe ist aber,
dass zugleich der Ausnahmecharakter des Betrachters, des Forschers aufrecht-
erhalten bleibt und er sich mit dem Regulären nicht gemein macht.
Aus JGB 26 ergibt sich anthropologisch-praktisch die an Ausnahmemen-
schen gerichtete Aufforderung, Ekel und Leiden am Menschen zu überwinden,
und zwar gerade dadurch, dass man sich ganz ins Durchschnittlich-Menschli-
che hineinbegibt. Dass die zweite Hälfte des Abschnitts ausgerechnet den Um-
gang mit Cynikern empfiehlt, hängt nicht nur daran, dass sie in ihrer Drastik
die notwendige Beschäftigung mit den Durchschnittsmenschen verkürzen,
weil sie deren Garstigkeit in nuce auf den Punkt bringen. Es gründet auch da-
rin, dass der „auserlesene Mensch“ in der Konfrontation mit diesen Cynikern
den Ekel bis zum Äußersten zu steigern und auf diese Weise paradoxerweise
womöglich zu überwinden vermag.
43, 29-31 Jeder auserlesene Mensch trachtet instiktiv nach seiner Burg und
Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst ist] In
NL 1885/86, KSA 12, 2[2], 67, 9-13 (KGW IX 5, W I 8, 273, 2-8) hat N. die unge-
wöhnliche Wendung „Burg und Heimlichkeit“, ebenso die in JGB 24 gebrauch-
te vom „goldenen Gitterwerk“ (vgl. NK 42, 26-43, 2) schon einmal benutzt:
„Dieser herrliche Geist, sich selbst jetzt genug und gut gegen Überfälle verthei-
digt und abgeschlossen: — ihr zürnt ihm wegen seiner Burg und Heimlichkeit
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften