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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0255
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Stellenkommentar JGB 27, KSA 5, S. 45 235

den“ (45, 29), performativ ins Werk setzt, indem er für die allermeisten Leser
völlig unverständliche Sanskrit-Worte verwendet. Zum andern wird der Gegen-
satz zum unverstellten, gradlinig-verständlichen Sprechen der Cyniker von JGB
26 wirkungsvoll inszeniert - gerade dieser Form der Direktheit verweigert sich
das Ich, das mit der zumindest am Ende von JGB TI erwogenenen Abschaffung
selbst der „guten Freunde“ (45, 31) wieder zurückzukehren scheint zur bewuss-
ten Selbstabschottung, die der „auserlesene Mensch“ (43, 29) zu Beginn von
JGB 26 einnahm.
In einer Vorstufe stand das Freundschaftsthema noch im Vordergrund, und
es heißt darin: „es ist schwer mich zu verstehen; und ich wäre ein Narr und
ich habe mir vorgenommen, wenn ich nicht meinen Freunden einigen Spiel-
raum zum Mißverständniß gäbe und auch schon für den guten Willen zu eini-
ger Freiheit der Interpretation dankbar (wäre}“ (KSA 14, 351). Eine weitere Fas-
sung dieses Gedankens stellt die Aufzeichnung NL 1885/86, KSA 12,1[182], 50 f.
(KGW IX 2, N VII 2, 80) dar, deren Kritk am Verstehen-Wollen der Freunde im
Satz gipfelt: „Comprendre c’est egaler.“ (KSA 12, 51, 7. „Verstehen ist gleichma-
chen.“) Diesen Satz hatte N. sich bei der Lektüre des Essais von Paul Bourget
über die Brüder Goncourt unterstrichen (Bourget 1886, 148, vgl. NK KSA 6, 61,
10-12 u. NK KSA 6, 439,1). Zur Interpretation von JGB TI siehe auch Stegmaier
2000b, 43-47 u. Lampert 2001, 66-68.
45, 25-31 Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasro-
togati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben,
nämlich kurmagati oder besten Falles „nach der Gangart des Frosches“ mandei-
kagati — ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden? — und
man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von
Herzen erkenntlich sein.] In NL 1886, KSA 12, 3[18], 175 (entspricht KGW IX 4,
W17,1) hatte sich N. notiert: „gangasrotogati ,wie der Strom des Ganges dahin-
fließend4 = presto / kurmagati ,von der Gangart der Schildkröte4 = lento / man-
deikagati ,von der Gangart des Frosches4 = staccato“ (Peter Gast hatte sich in
seiner JGB-Ausgabe dieser Aufzeichnung bedient, um eine Herausgeber-Erläu-
terung ohne Quellenangabe anzubringen, siehe Eichberg 2009, 130 f.). Lampl
1993, 300 f. sowie Röllin/Trenkle 2008, 317-318 machen als Quelle den Artikel
Eine Reise nach Ostindien IV von Julius Jolly aus der Deutschen Rundschau von
1884 aus, in dem es heißt: „Das feine musikalische Gehör ist zu bewundern,
welches die Hindus befähigt, selbst Viertelstöne mit der größten Sicherheit zu
unterscheiden. Andererseits bildet für ein europäisches Ohr diese Feinheit der
Tonnüancirung einen schlechten Ersatz für die mangelnde Harmonisirung,
und es wird dadurch zugleich unmöglich, die indischen Ragas (Melodien) mit
einer Genauigkeit in europäischen Noten, oder europäische Stücke in indischer
Musik wiederzugeben. Bei den Gesängen, die leider mit der Fistelstimme ge-
 
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