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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0265
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Stellenkommentar JGB 30, KSA 5, S. 48 245

Schätzungen sich den kleinen Leuten und ihren Tugenden annähert. Es
giebt auch Bücher, welche zweideutig sind für Seele und Gesundheit, je nach-
dem die niedere Seele, die niedere Gesundheit oder aber die höhere sich ihrer
bedienen. Was den kleinen Leuten als Evangelium, Stärkung, bester Seelen-
trost ist, kann es unmöglich solchen sein, welche einen hohen Sinn haben.
Die berühmtesten Bücher, der Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo ,das Volk4
verehrt, stinkt es. Man soll nicht in Kirchen gehen, wenn man reine Luft
athmen will: aber nicht Jedermann hat das Recht auf ,reine Luft4.“ (KSA 14,
351 f.) Offensichtlich sollte dieser Text im Sommer 1885 in die Vorrede zu einer
Neubearbeitung von Menschliches, Allzumenschliches einfließen; jedenfalls
wird die erste Zeile „Unsere höchsten Einsichten müssen und sollen usw.“ im
entsprechenden Kontext zitiert (NL 1885, KSA 11, 40[66], 667, 3 = KGW IX 4, W
I 7, 18, 22).
48, 11-14 Unsre höchsten Einsichten müssen — und sollen! — wie Thorheiten,
unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu
Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind.] Dass „höchste
Einsichten [...] wie Thorheiten“ „klingen“ sollen, ist eine Forderung, die die in
NK ÜK JGB 30 mitgeteilte Vorstufe aus W I 5 noch nicht formulierte (vgl. aber
zum Verhältnis von Weisheit und Torheit M 107, KSA 3, 94 f. u. FW 107, KSA
3, 464 f.). In der Vorstufe wird gleich die Assoziation von „Einsichten“ und
„Verbrechen“ vollzogen, deren Schockwirkung in der publizierten Fassung
durch die vorgeschalteten Torheiten indes abgemildert erscheint. Dass Philoso-
phie Verbrechen sei, ist ein Verdacht, der bei den Griechen seit Anaxagoras
und Sokrates stets mitschwang (vgl. auch Platon: Politeia 487a-e, dazu Lam-
pert 2001, 72), so sehr sich Philosophie als akademische Disziplin ängstlich
darum bemühte, diesen Verdacht abzuschütteln und etwa alle (gegen Sokrates
erhobenen) Anschuldigungen zu zerstreuen, Philosophie verderbe die Jugend
und lehre die Gottlosigkeit. JGB 30 verweigert sich nicht nur diesem Bemühen
der Philosophie um Selbstrechtfertigung als einer ganz und gar nicht kriminel-
len Unternehmung, sondern kehrt die Rechtfertigungsstrategie um: Das Ver-
brecherische der eigenen „höchsten Einsichten“ - aus der Perspektive der Mo-
ral - wird geradezu zum immoralistischen Postulat erhoben, um damit die
Weltmächtigkeit und das Umstürzende der neuen Einsichten hervorzuheben.
In N.s Schriften von 1888 sollte dann nicht nur zwecks Diskreditierung das
Christentum und die ihm entstammende Philosophie als verbrecherisch de-
nunziert (vgl. z. B. NK KSA 6, 371, 24-26 u. NK KSA 6, 254, 13 f.), sondern auch
für die eigenen Werke das Verbrecherische in Anspruch genommen werden, so
gegenüber Georg Brandes am 20.10.1888 zur Götzen-Dämmerung: „Diese
Schrift ist meine Philosophie in nuce — radikal bis zum Verbrechen ...“ (KSB
8/KGB III/5, Nr. 1134, S. 457, Z. 35 f., vgl. auch NK 6/1, S. 533-538).
 
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