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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0274
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254 Jenseits von Gut und Böse

antwortlichen Subjekt zugerechnet werde dürfe, während zu Beginn JGB 32 die
Frage im Zentrum steht, auf welcher Grundlage Handlungen ein Wert zuge-
rechnet werden dürfe. Die beiden Hypothesen über die Urzeit der Menschheit
und ihr Verständnis von Handeln und Recht sind miteinander verwandt.
50,13 f. ungefähr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande
vom Kinde auf die Eltern zurückgreift] Während aus Joseph Kohlers kurzer Ab-
handlung über Das chinesische Strafrecht (1886) zu diesem Thema nichts zu
erfahren ist, erörtert Albert Hermann Post in seinen Bausteinen für eine allge-
meine Rechtswissenschaft detailliert, wie die Angehörigen und namentlich die
Eltern eines Delinquenten bei gewissen Verbrechen mit zur Rechenschaft gezo-
gen werden (Post 1880-1881, 1, 238, vgl. auch 232: „Mit dem Untergange der
Geschlechterverfassung verschwindet überall die Verantwortlichkeit desjeni-
gen, welcher die zufällige Ursache eines Unglücksfalles war, verschwinden
auch überall die Ungefährsbussen. Wo aber die Geschlechterverfassung zum
Theil im Staate noch weiter existirt, wie in China oder Japan, bleibt auch die
alte Anschauung noch die massgebende“). In seinen Grundlagen des Rechts
vermerkte Post: „In China ist der Vater wegen aller Fehltritte, die in seiner
Familie begangen werden, allein verantwortlich“ (Post 1884, 124).
50,17-31 Nennen wir diese Periode die vormoralische Periode der Mensch-
heit: der Imperativ „erkenne dich selbst!“ war damals noch unbekannt. In den
letzten zehn Jahrtausenden ist man hingegen auf einigen grossen Flächen der
Erde Schritt für Schritt so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die
Herkunft der Handlung über ihren Werth entscheiden zu lassen: ein grosses Er-
eigniss als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs, die
unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe und des
Glaubens an „Herkunft“, das Abzeichen einer Periode, welche man im engeren
Sinne als die moralische bezeichnen darf: der erste Versuch zur Selbst-Er-
kenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die Herkunft: welche Umkehrung
der Perspektive! Und sicherlich eine erst nach langen Kämpfen und Schwankun-
gen erreichte Umkehrung!] Die rechtshistorische Quellengrundlage (vgl. NK 50,
9-17) wird nun zur Skizze einer Moralgeschichte verwendet. Diese reicht von
einer „vormoralische[n] Periode“, die durch reinen Konsequentialismus
und das Absehen von allen Fragen persönlicher Verantwortlichkeit, Absicht
oder Schuld gekennzeichet ist, über eine „moralische“ Periode, in der die
„Herkunft der Handlung“ im Zentrum steht, bis hin zu einer hypermorali-
schen Periode, in der nur noch die Absicht zählt (vgl. NK 50, 31-51, 7). In
einem vierten Schritt wird schließlich eine „aussermoralische“ Periode
(51,13) in Aussicht gestellt, in der die Absicht wiederum ihre Bedeutung verlie-
re und man dazu übergehe, „dem, was nicht-absichtlich an einer Hand-
lung ist“, „entscheidende[n] Werth“ zuzubilligen (51, 15 f.).
 
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