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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0290
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270 Jenseits von Gut und Böse

sich „über die Gläubigkeit an die Grammatik“ zu „erheben“. Die Exposition
des sprachkritischen Programmes steht an prominenter Stelle bereits in der
Vorrede zu JGB, vgl. NK11,16-12, 3. In JGB 34 wird das Programm zur Desillusi-
onierung ontologischer und erkenntnistheoretischer Zwangsvorstellungen an-
gewendet. Eine ausführliche Vorarbeit findet sich in NL 1885, KSA 11, 40[20],
637 f. (KGW IX 4, W I 7, 68 f.).
Direkt inspiriert ist, wie Riccardi 2006, 299 f. nachgewiesen hat, die Assozi-
ation von „Gouvernante“, „Grammatik“ und „Philosophie“ von Eugen Düh-
rings Werth des Lebens: „Was die beschränkte absolutistische Moral sei, wird
besonders deutlich, wenn man sie mit der Grammatik vergleicht. Letztere ist
ihrem Wesen nach ein Abbild der lebendigen Gesetzmässigkeit der Sprache
und hat daher an einem gegebenen Object ihr Maass. Allein es ist bekannt,
welche Vorstellung die Gouvernanten von der Grammatik zu haben pflegen.
Diesen eifrigen Damen erscheint die abstracte Regel als eine Macht, die aus
und durch sich selbst ist. Nach dem Ursprünge einer solchen /171/ Macht fra-
gen, wäre ein Frevel. Die Gedanken hören auf, sobald sie an die Autorität der
Urheber der Grammatiken appellirt haben, und die bedeutsamste Urheber-
schaft, die letzte und grösste Autorität, nämlich die lebendige Sprache und
deren in mannichfaltigen Formen übungsmässig ausgeprägter Charakter wird
vergessen. Die abstracte Regel wird so zu sagen zu einem absoluten Gespenst,
welchem bisweilen die bessere Bildung der Wirklichkeit geopfert wird. Es fällt
dem beschränkten Sinne gar nicht ein, dass die Abstraction nur darum gilt,
weil sie richtig ist und den unbefangen aufgefassten Charakteren der wirkli-
chen Gestaltung entspricht; der pedantische Verstand verlegt den Schwerpunkt
in die Sphäre der abgelösten Regeln, welche in ihrer Isoliertheit bisweilen wun-
derliche Schicksale erfahren und der Wirklichkeit gänzlich entfremdet werden
können. Auf diese Weise geschieht es, dass sich die Thorheit auf ein System
von Grundsätzen steift, die in der letzten Berufung auf die höchste Autorität,
ich meine auf das Leben, zu Schanden werden müssen. Man kann die Sprache
erst aus der Grammatik meistern, wenn man die Grammatik zuvor der Sprache
abgelauscht hat; man kann dem Leben erst mit der Moral entgegentreten,
wenn man zuvor die Moral aus den Triebkräften und grundgesetzlichen Cha-
rakteren des Lebens gewonnen hat.“ (Dühring 1865, 170 f.) Bereits 1875 hat N.
in seinem großen Dühring-Exzerpt aus dieser Passage glossiert: „Die absolutis-
tische Moral ist mit der Grammatik zu vergleichen, so wie die Gouvernanten
diese sich vorstellen: als eine Macht aus und durch sich selbst. Man kann die
Sprache erst aus der Grammatik meistern, wenn man die Grammatik zuvor der
Sprache abgelauscht hat. So muß erst die Moral aus den Triebkräften und dem
Grundcharakter des Lebens gewonnen sein, ehe man mit ihr dem Leben entge-
gentreten darf“ (NL 1875, KSA 8, 9[1], 171, 32-172, 4).
 
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