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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0292
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272 Jenseits von Gut und Böse

danach das Volk der Undankbarkeit zu bezichtigen. Voltaires Verse gehören
also in einen spezifisch politischen Kontext und sind keine Selbstbeschrei-
bung, sie dienen vielmehr der - allerdings lobend gemeinten - Charakterisie-
rung eines Aufklärers, der im Regierungshandeln auch bereit war, die Wahr-
heit pragmatischen Erwägungen unterzuordnen. Man könnte bei aller Hoch-
achtung schon in Voltaires Versen an Turgot eine kritische Spitze verborgen
sehen. JGB 35 wandelt wie gesagt den originalen Wortlaut des Verses ab: Aus
der zweiten Person wird die dritte, aus der Vergangenheitsform die Gegenwart.
Diese Abwandlung lässt sich schon vor N. gelegentlich belegen, so in einem
Artikel des französischen Ökonomen und Politikers Frederic Passy (1822-1912),
der als Humanist und Pazifist den ersten Friedensnobelpreis bekommen sollte.
Passy wirft in der Revue scientifique von 1883 einen Blick auf die Geschichte
der politischen Ökonomie und spricht dabei ausführlich über Turgots Reform-
anstrengungen und resümiert: „Voltaire n’a rien dit de trop lorsqu’il a ecrit ce
vers [...]: II ne cherche le vrai que pour faire le bien.“ (Passy 1883, 203. „Voltaire
hat nicht zu viel gesagt, als er diesen Vers schrieb [...]: er sucht das Wahre nur,
um das Gute zu tun.“) Nun gibt es keinen Beleg dafür, dass N. Passys Artikel
und überhaupt je die Revue scientifique gelesen oder sich für Turgot interessiert
hätte. Aber die Übereinstimmung in dem fehlerhaften Voltaire-Zitat ist den-
noch ebenso auffällig wie die zeitliche Koinzidenz. Wenn N. sich darüber klar
gewesen ist, dass der Vers ursprünglich kein Selbstbekenntnis Voltaires dar-
stellte, sondern an einen abgehalfterten Aufklärungspolitiker adressiert war,
ist der Interpretationsrahmen für JGB 35 erheblich enger als im ebenfalls mögli-
chen Fall, dass N. das abgewandelte Zitat losgelöst vom Kontext untergekom-
men ist. In beiden Fällen bleibt es indes bei dem Befund, dass nur eine be-
stimmte Form von Aufklärung, nämlich ihre moralisch dogmatische Variante,
die das Wahrheitsinteresse angeblich höheren Werten subsumiert, von der Kri-
tik betroffen ist.

36.
Die Textgeschichte von JGB 36 ist verwickelt. Eine frühe Überlegung zum The-
ma stellt eine stark redigierte Aufzeichnung in NL 1885, KGW IX 4, W I 3, 94 f.
(KGW VII4/2, 469-471) dar (hier in enger Anlehnung an das Manuskript-Faksi-
mile wiedergegeben): „r- Und wißt ihr auch, was mir die Welt ist? Soll ich sie
euch im Spiegel zeigen?'' Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang,
ohne Ende, eine feste ''eherne'' Größe von Kraft die ''welche'' nicht größer, nicht
kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur umsetzt ''verwandelt'' als
Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne rAusgaben u’’ Einbußen, aber
ebenso ohne Zuwachs, m rohne'' Einnahmen, vom ,Nichts4 umschlossen als
 
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