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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0296
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276 Jenseits von Gut und Böse

wissenschaftlicher Hypothesenbildung: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, un-
ser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer
Grundform des Willens zu erklären — nämlich des Willens zur Macht, wie es
mein Satz ist —; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen
Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Pro-
blems der Zeugung und Ernährung — [...] — fände, so hätte man damit sich
das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille
zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen
Charakter4 hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben ,Wille zur Macht4 und
nichts ausserdem.44 (KSA 5, 55, 23-34) Das Problem dieser Konditionalisierung,
Hypothetisierung (vgl. auch Burnham 2007, 61-65), ja Irrealisierung des Gedan-
kens vom „Willen zur Macht“ als Generalnenner der Welt besteht darin, dass
die Folgerung tautologisch ist: Wenn man überall Wille zur Macht finden könn-
te, dann wäre es gerechtfertigt, die Welt als Wille zur Macht zu denken. Nur
liefert JGB 36 schwerlich hinreichend Anhaltspunkte, dass man tatsächlich
überall und ausnahmslos Wille zur Macht am Werk zu finden vermag: Empi-
risch ist die Hypothese nicht hinreichend validiert, so dass man in der Tautolo-
gie am Ende von JGB 36 womöglich - trotz des scheinbar plakativen Selbst-
zeugnisses in 55, 25f.: „des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist“ - weni-
ger ein Bekenntnis zu einer Wille-zur-Macht-Ontologie vermuten sollte, als eine
Form der Persiflage von Wissenschaft und ihrem Zwang zur Hypothesenbil-
dung. Vgl. überdies die Beobachtung von Dellinger 2012b, 321: „Nicht zuletzt
lässt sich die Indizierung des »Willens zur Macht4 als ,mein Satz4 ([...]) nicht nur
als thetische Bekräftigung, sondern auch als relativierende Perspektivierung
und neuerliche Rückbindung des Konzepts an die Autorpersönlichkeit inter-
pretieren“.
Freilich hat den N.-Interpreten die vermeintliche Ein-Eindeutigkeit von NL
1885, KSA 11, 38[12], 611 f. in der letzten Fassung oft besser gefallen als die
vorbehaltvolle, womöglich ironische Präsentation in JGB 36. Die Aufzeichnung
schloss die zweite Auflage der Nachlasskompilation Der Wille zur Macht ab
(WzM2 1067) und stand damit auch für kurzatmigste Leser an sichtbarer Stelle.
Bei Heidegger 1989, 2, 37 wurde daraus dann: „Wenn alles Seiende Wille zur
Macht ist, dann ,hat4 nur Wert und ,zst4 nur ein Wert solches, was die Macht in
ihrem Wesen erfüllt.“ (Vgl. kritisch dazu Niemeyer 2014,157.) Noch Müller-Lau-
ter 1999a, 36 behauptete im Hinblick auf das Verhältnis von JGB 36 und WzM2
1067: „Geht es um die Herausarbeitung von Nietzsches letzten »Einsichten4 und
nicht um die Problematik der Fragehaltung der »freien Geister4, so verdient
hier - [...] - der Nachlaßtext, der »Vorstufe4 ist, den interpretatorischen Vorrang
gegenüber der veröffentlichten Fassung.“ (Die prinzipiell entgegengesetzte
Auffassung hat Behler 1988, 24 vertreten. Zu beiden Stellen Born/Pichler 2013,
 
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