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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0301
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Stellenkommentar JGB 36, KSA 5, S. 55 281

dualismus von Schopenhauers ,Welt als Wille und Vorstellung4 kassiert, indem
sie alles in Willen umdeutet (wobei diese Intuition ja durchaus auch diejenige
Schopenhauers war, siehe NK 54, 19-26).
55, 5-23 Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen: es ist, vom
Gewissen der Methode aus, geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität an-
nehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine
äusserste Grenze getrieben ist ( — bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen): das
ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf; — es folgt
„aus ihrer Definition“, wie ein Mathematiker sagen würde. Die Frage ist zuletzt,
ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Causalität
des Willens glauben: thun wir das — und im Grunde ist der Glaube daran eben
unser Glaube an Causalität selbst —, so müssen wir den Versuch machen, die
Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. „Wille“ kann natürlich
nur auf „Wille“ wirken — und nicht auf „Stoffe“ (nicht auf „Nerven“ zum Bei-
spiel — ): genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo „Wirkun-
gen“ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht alles mechanische
Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wir-
kung ist. —] Der hier behauptete methodische Zwang, zunächst eine Vereinheit-
lichung unterschiedlicher Kausalitäten zu einer einzigen Kausalität, nämlich
der Kausalität des Willens anstreben zu müssen, suggeriert strenge Wissen-
schaftlichkeit, ohne dass allerdings erläutert würde, wie ein solcher methodi-
scher Zwang zustande kommen sollte: Ist es nicht womöglich ein wissen-
schaftsmoralisches Vorurteil, die Einheit für besser zu halten als die Vielheit,
einer Erklärung den Vorzug vor vielen Erklärungen zu geben? ,,[A]us ihrer Defi-
nition“ - bezieht sich das Possessivpronomen auf die „Moral“ oder die „Metho-
de“? - folgt jedenfalls keineswegs notwendig, dass eine Kausalität einer Fülle
von Kausalitäten als Welterklärungsmodell überlegen sein müsste. In NL 1885,
KSA 11, 40[37], 647, 8-15 (KGW IX 4, W I 7, 57, 24-36) wird noch mit einem
Entweder-Oder operiert. Selbst wenn der Leser nun das (hypothetische) Zuge-
ständnis macht, den „Willen“ als „wirkend“ zu denken - die Frage beiseite
schiebend, wie denn aus der „Welt der Begierden und Leidenschaften“ so
plötzlich „Wille“ herausdestilliert werden konnte, ohne zu Schopenhauers me-
taphysischem ,Pantersprung‘ Zuflucht zu nehmen -, dann ist aus dieser kausa-
len Wirksamkeit des Willens doch noch keineswegs zwingend abzuleiten, dass
Wille nur auf Wille wirken kann. Diese Ableitung wäre aber bloß zulässig,
wenn man schon bewiesen hätte, dass alles Wille ist - und genau diesen Be-
weis bleibt JGB 36 sogar innerhalb des hypothetischen Argumentationsgefüges
schuldig. JGB 36 liest sich wie eine exakte Kontrafaktur von FW 127, wo unter
der Überschrift „Nachwirkung der ältesten Religiosität“ nüchtern
zu bedenken gegeben wird: „Jeder Gedankenlose meint, der Wille sei das allein
 
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