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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0314
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294 Jenseits von Gut und Böse

bei der funktionalen Betrachtung der Maske den Verführungsaspekt stärker ge-
wichten: Die Maske macht anziehend, sie macht interessant. „Volksthümlich
ist und bleibt die Maske!“ (FW 77, KSA 3, 433, 15) Wäre die Maske der sich
freisprechenden Geister womöglich ein Zugeständnis an den Geschmack des
erhofften Publikums, eine Akkomodationsleistung? Jedenfalls benutzte N. die
Maske als Verführungsmittel durchaus auch in seiner privaten Korrespondenz,
so im Briefentwurf an Heinrich von Stein von Mitte März 1885: „Es ist mein
Loos, mich nur unter Masken zu zeigen, ich bin sehr ehrlich gegen Sie, Ihnen
so viel von mir zu verrathen.“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 584, S. 26, Z. 14f.)
Schließlich kann in JGB 230 der „Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur
Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche“ dem ,,sublime[n] Hang des Erken-
nenden“ geradezu antipodisch entgegenstehen (KSA 5, 168, 23-26).
57, 26 f. Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar
einen Hass auf Bild und Gleichniss.] Müller 2013, 249 f. argumentiert, in 57, 26 f.
werde der „konventionelle[.] Begriff der Maske“ „außer Kraft gesetzt“, weil hier
die „fixe Relation zwischen dem Signifikant qua Maske und dem Signifikat
als Maskenträger“ aufbreche. Freilich lässt sich der Eingangssatz von JGB 40
durchaus als Fortsetzung der herkömmlichen Verhehlungsrhetorik deuten: Das
Tiefe muss sich eine Oberfläche zulegen, die das Tiefe selbst verbirgt. Im zwei-
ten Halbsatz sieht Müller 2013, 250 eine Anspielung auf das Bilderverbot in
Exodus 20, 4 („Du sollst dir kein Bildniß noch irgend ein Gleichniß machen,
weder deß, das oben im Himmel, noch deß, das unten auf Erden, oder deß,
das im Wasser unter der Erde ist.“ Die Bibel: Altes Testament 1818, 80), um es
mit Genesis 1, 26 zu kontrastieren („Und GOtt sprach: Lasset uns Menschen
machen, ein Bild, das uns gleich sey“. Die Bibel: Altes Testament 1818, 2). Mül-
lers Schlussfolgerung scheint allerdings gewagt: „Die Ebenbildlichkeit des
Menschen zu jenem Gott, von dem er sich als imago dei gleichzeitig weder Bild
noch Gleichnis machen darf, scheint daher das Ausgangsparadox zu sein, in
dem Nietzsches Maskenspiel angesiedelt ist.“ (Müller 2013, 250 f.) Selbst wenn
man Müller bei der Identifikation der beiden Subtexte zustimmt, ist doch nicht
zu erkennen, inwiefern daraus eine paradoxe Struktur erwachsen soll: Quod
licet lovi, non licet bovi. Wenn sich der Mensch kein „Bild und Gleichniss“ ma-
chen darf, gilt das nicht auch von Gott. In den biblischen Versen sind unter-
schiedliche Handlungssubjekte adressiert.
Der Eingangssatz besagt eher, dass die Maske eben nicht ein „Bild und
Gleichniss“ dessen darstellt, was „tief“ ist, sondern sie steht vielmehr dazu in
Opposition. Entsprechend erscheint eine Paradoxie nur, wenn man „Maske“
mit „Bild und Gleichniss“ identifiziert, wozu der Text aber keinen Anlass gibt.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass N. diesen Satz völlig entpersonalisiert
konstruiert: Es treten keine menschlichen (oder wie gleich in der Folge: göttli-
 
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